Talvj, Volkslieder der Serben, 1825Trinkt aus einem Becken, das zwölf Maaß hält, Leert es selbst halb, giebt es halb dem Scharatz. Als des Morgens nun der Morgen anbrach, Sieh', lustwandelnd auf der Feste Wällen 110 Gieng Welimirs junge Eh'gemahlin, Die geliebte Schnur des Feldherrn Wutscha. Nach der grünen Flur sah sie hinüber, Wo der Held mit seinem Rosse zechte. Aber als den Fremdling sie erblicket, 115 Faßt sie schaudernd ein dreijährig Fieber. Und sie floh nach ihrem weißen Hause. Dorten nun befragte sie ihr Schwäher: "Sage mir, mein Töchterchen, was ist Dir?" -- Ihm entgegnete Welimirs Gattin: 120 "O mein lieber Schwäher, Feldherr Wutscha! Dort auf dem Gefilde sitzt ein Jüngling, In die Erde stieß er seine Lanze, An die Lanze ist ein Roß gebunden, Und ein Schlauch voll Wein steht ihm zur Seite; 125 Doch er trinkt nicht Wein, wie sonst man Wein trinkt, Trinkt aus einem Becken, das zwölf Maaß hält, Leert es halb, und giebt es halb dem Rosse. Doch das Roß ist nicht, wie andre Rosse, Sondern buntgefleckt, gleich einem Rinde. 130 Auch der Held ist nicht, wie andre Helden: Einen Pelzrock hat er um von Wolfsfell, Auf dem Haupt' von Wolfsfell eine Mütze, Wo ein dunkles Tuch darum gewunden. Trinkt aus einem Becken, das zwölf Maaß hält, Leert es selbst halb, giebt es halb dem Scharatz. Als des Morgens nun der Morgen anbrach, Sieh', lustwandelnd auf der Feste Wällen 110 Gieng Welimirs junge Eh'gemahlin, Die geliebte Schnur des Feldherrn Wutscha. Nach der grünen Flur sah sie hinüber, Wo der Held mit seinem Rosse zechte. Aber als den Fremdling sie erblicket, 115 Faßt sie schaudernd ein dreijährig Fieber. Und sie floh nach ihrem weißen Hause. Dorten nun befragte sie ihr Schwäher: „Sage mir, mein Töchterchen, was ist Dir?“ — Ihm entgegnete Welimirs Gattin: 120 „O mein lieber Schwäher, Feldherr Wutscha! Dort auf dem Gefilde sitzt ein Jüngling, In die Erde stieß er seine Lanze, An die Lanze ist ein Roß gebunden, Und ein Schlauch voll Wein steht ihm zur Seite; 125 Doch er trinkt nicht Wein, wie sonst man Wein trinkt, Trinkt aus einem Becken, das zwölf Maaß hält, Leert es halb, und giebt es halb dem Rosse. Doch das Roß ist nicht, wie andre Rosse, Sondern buntgefleckt, gleich einem Rinde. 130 Auch der Held ist nicht, wie andre Helden: Einen Pelzrock hat er um von Wolfsfell, Auf dem Haupt' von Wolfsfell eine Mütze, Wo ein dunkles Tuch darum gewunden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0271" n="205"/> <lg> <l>Trinkt aus einem Becken, das zwölf Maaß hält,</l><lb/> <l>Leert es selbst halb, giebt es halb dem Scharatz.</l> </lg><lb/> <lg> <l>Als des Morgens nun der Morgen anbrach,</l><lb/> <l>Sieh', lustwandelnd auf der Feste Wällen <note place="right">110</note></l><lb/> <l>Gieng Welimirs junge Eh'gemahlin,</l><lb/> <l>Die geliebte Schnur des Feldherrn Wutscha.</l><lb/> <l>Nach der grünen Flur sah sie hinüber,</l><lb/> <l>Wo der Held mit seinem Rosse zechte.</l><lb/> <l>Aber als den Fremdling sie erblicket, <note place="right">115</note></l><lb/> <l>Faßt sie schaudernd ein dreijährig Fieber.</l><lb/> <l>Und sie floh nach ihrem weißen Hause.</l><lb/> <l>Dorten nun befragte sie ihr Schwäher:</l><lb/> <l>„Sage mir, mein Töchterchen, was ist Dir?“ —</l><lb/> <l>Ihm entgegnete Welimirs Gattin: <note place="right">120</note></l><lb/> <l>„O mein lieber Schwäher, Feldherr Wutscha!</l><lb/> <l>Dort auf dem Gefilde sitzt ein Jüngling,</l><lb/> <l>In die Erde stieß er seine Lanze,</l><lb/> <l>An die Lanze ist ein Roß gebunden,</l><lb/> <l>Und ein Schlauch voll Wein steht ihm zur Seite; <note place="right">125</note></l><lb/> <l>Doch er trinkt nicht Wein, wie sonst man Wein trinkt,</l><lb/> <l>Trinkt aus einem Becken, das zwölf Maaß hält,</l><lb/> <l>Leert es halb, und giebt es halb dem Rosse.</l><lb/> <l>Doch das Roß ist nicht, wie andre Rosse,</l><lb/> <l>Sondern buntgefleckt, gleich einem Rinde. <note place="right">130</note></l><lb/> <l>Auch der Held ist nicht, wie andre Helden:</l><lb/> <l>Einen Pelzrock hat er um von Wolfsfell,</l><lb/> <l>Auf dem Haupt' von Wolfsfell eine Mütze,</l><lb/> <l>Wo ein dunkles Tuch darum gewunden.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [205/0271]
Trinkt aus einem Becken, das zwölf Maaß hält,
Leert es selbst halb, giebt es halb dem Scharatz.
Als des Morgens nun der Morgen anbrach,
Sieh', lustwandelnd auf der Feste Wällen
Gieng Welimirs junge Eh'gemahlin,
Die geliebte Schnur des Feldherrn Wutscha.
Nach der grünen Flur sah sie hinüber,
Wo der Held mit seinem Rosse zechte.
Aber als den Fremdling sie erblicket,
Faßt sie schaudernd ein dreijährig Fieber.
Und sie floh nach ihrem weißen Hause.
Dorten nun befragte sie ihr Schwäher:
„Sage mir, mein Töchterchen, was ist Dir?“ —
Ihm entgegnete Welimirs Gattin:
„O mein lieber Schwäher, Feldherr Wutscha!
Dort auf dem Gefilde sitzt ein Jüngling,
In die Erde stieß er seine Lanze,
An die Lanze ist ein Roß gebunden,
Und ein Schlauch voll Wein steht ihm zur Seite;
Doch er trinkt nicht Wein, wie sonst man Wein trinkt,
Trinkt aus einem Becken, das zwölf Maaß hält,
Leert es halb, und giebt es halb dem Rosse.
Doch das Roß ist nicht, wie andre Rosse,
Sondern buntgefleckt, gleich einem Rinde.
Auch der Held ist nicht, wie andre Helden:
Einen Pelzrock hat er um von Wolfsfell,
Auf dem Haupt' von Wolfsfell eine Mütze,
Wo ein dunkles Tuch darum gewunden.
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Zitationshilfe: | Talvj, Volkslieder der Serben, 1825, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_volkslieder_1825/271>, abgerufen am 26.06.2024. |