Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.obligatorische Krankenversicherung sind uns aus den Kreisen der Arbeiterinnen lebhafte Klagen zu Ohren gekommen. Da aber, was immer von einem Institut von der Tendenz der J. C. A. ausgeht, gewissermaßen unter der Flagge der J. C. A. im Lande segelt, vorbildlich korrekt und vertrauenswürdig sein muß, so hat die J. C. A. auch dafür zu sorgen, daß die Rechte der Arbeiterinnen unter allen Umständen gewahrt bleiben. Das geschähe am besten, wenn man die Mädchen über die Vorteile der Organisation, d. h. der Selbstvertretung und Selbsthilfe aufklärte. Da das aber voraussichtlich als ein Eingriff in politisches Gebiet aufgefaßt und zurückgewiesen würde, so bleibt nur die schärfste Kontrolle, sowie eine minutiöse Wahrnehmung der Rechte der Arbeiterinnen übrig, die eine ausbeuterische Übervorteilung nach irgend einer Seite ausschließt. Auch der galizische Hilfsverein in Wien pflegt die Idee, Arbeitsgelegenheit ins Land zu bringen und scheut die Kosten nicht, einige Experimente zu machen. Seine Hauptleistung war die Einführung der Haarnetzindustrie. Über dieselbe ist zu berichten, daß sich fast überall eine große Enttäuschung eingestellt hat. Wie wir erfuhren, hat man anfangs zu große Versprechungen gemacht, die Mädchen erwarteten von einer Art leichter Spielerei goldene Berge. Heute hat sich herausgestellt, daß die Arbeit eine recht mühsame ist und große Akkuratesse und Geduld erfordert, während der Verdienst ein sehr geringer ist. Da von dem galizischen Hilfsverein gar keine Vorkehrungen getroffen sind, Lohndruck, willkürliche Lohnabzüge und Verzögerung der Lohnauszahlung hintanzuhalten, so ist die Haarnetzerei nach kurzem Aufschwunge wieder stark im Rückgange begriffen. Auch der Umstand, daß die Fertigkeit des Netzens nirgends anders zu verwerten ist, als da, wo bestimmte Firmen als Ausbeuter auftreten und daß die Übung des Netzens keine andere Arbeit neben sich duldet, macht die galizischen Mädchen abgeneigt, etwas zu lernen, was sie bei schlechter Bezahlung auch noch äußerlich an gewisse Firmen bindet. In christlichen Industrieorten wird die Haarnetzerei vielfach als Nebenverdienst in den Familien betrieben, unter jüdischen Mädchen in Galizien wurde sie oft von solchen erfaßt, die sich schämten, öffentlich als Arbeiterinnen zu gelten. Man arbeitet die Netze bei geschlossenen Fenstern und Türen, da, obligatorische Krankenversicherung sind uns aus den Kreisen der Arbeiterinnen lebhafte Klagen zu Ohren gekommen. Da aber, was immer von einem Institut von der Tendenz der J. C. A. ausgeht, gewissermaßen unter der Flagge der J. C. A. im Lande segelt, vorbildlich korrekt und vertrauenswürdig sein muß, so hat die J. C. A. auch dafür zu sorgen, daß die Rechte der Arbeiterinnen unter allen Umständen gewahrt bleiben. Das geschähe am besten, wenn man die Mädchen über die Vorteile der Organisation, d. h. der Selbstvertretung und Selbsthilfe aufklärte. Da das aber voraussichtlich als ein Eingriff in politisches Gebiet aufgefaßt und zurückgewiesen würde, so bleibt nur die schärfste Kontrolle, sowie eine minutiöse Wahrnehmung der Rechte der Arbeiterinnen übrig, die eine ausbeuterische Übervorteilung nach irgend einer Seite ausschließt. Auch der galizische Hilfsverein in Wien pflegt die Idee, Arbeitsgelegenheit ins Land zu bringen und scheut die Kosten nicht, einige Experimente zu machen. Seine Hauptleistung war die Einführung der Haarnetzindustrie. Über dieselbe ist zu berichten, daß sich fast überall eine große Enttäuschung eingestellt hat. Wie wir erfuhren, hat man anfangs zu große Versprechungen gemacht, die Mädchen erwarteten von einer Art leichter Spielerei goldene Berge. Heute hat sich herausgestellt, daß die Arbeit eine recht mühsame ist und große Akkuratesse und Geduld erfordert, während der Verdienst ein sehr geringer ist. Da von dem galizischen Hilfsverein gar keine Vorkehrungen getroffen sind, Lohndruck, willkürliche Lohnabzüge und Verzögerung der Lohnauszahlung hintanzuhalten, so ist die Haarnetzerei nach kurzem Aufschwunge wieder stark im Rückgange begriffen. Auch der Umstand, daß die Fertigkeit des Netzens nirgends anders zu verwerten ist, als da, wo bestimmte Firmen als Ausbeuter auftreten und daß die Übung des Netzens keine andere Arbeit neben sich duldet, macht die galizischen Mädchen abgeneigt, etwas zu lernen, was sie bei schlechter Bezahlung auch noch äußerlich an gewisse Firmen bindet. In christlichen Industrieorten wird die Haarnetzerei vielfach als Nebenverdienst in den Familien betrieben, unter jüdischen Mädchen in Galizien wurde sie oft von solchen erfaßt, die sich schämten, öffentlich als Arbeiterinnen zu gelten. Man arbeitet die Netze bei geschlossenen Fenstern und Türen, da, <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0033" n="33"/> obligatorische Krankenversicherung sind uns aus den Kreisen der Arbeiterinnen lebhafte Klagen zu Ohren gekommen.</p> <p>Da aber, was immer von einem Institut von der Tendenz der J. C. A. ausgeht, gewissermaßen unter der Flagge der J. C. A. im Lande segelt, vorbildlich korrekt und vertrauenswürdig sein muß, so hat die J. C. A. auch dafür zu sorgen, daß die Rechte der Arbeiterinnen unter allen Umständen gewahrt bleiben.</p> <p>Das geschähe am besten, wenn man die Mädchen über die Vorteile der Organisation, d. h. der Selbstvertretung und Selbsthilfe aufklärte. Da das aber voraussichtlich als ein Eingriff in politisches Gebiet aufgefaßt und zurückgewiesen würde, so bleibt nur die schärfste Kontrolle, sowie eine minutiöse Wahrnehmung der Rechte der Arbeiterinnen übrig, die eine ausbeuterische Übervorteilung nach irgend einer Seite ausschließt.</p> <p>Auch der galizische Hilfsverein in Wien pflegt die Idee, Arbeitsgelegenheit ins Land zu bringen und scheut die Kosten nicht, einige Experimente zu machen. Seine Hauptleistung war die Einführung der Haarnetzindustrie. Über dieselbe ist zu berichten, daß sich fast überall eine große Enttäuschung eingestellt hat. Wie wir erfuhren, hat man anfangs zu große Versprechungen gemacht, die Mädchen erwarteten von einer Art leichter Spielerei goldene Berge. Heute hat sich herausgestellt, daß die Arbeit eine recht mühsame ist und große Akkuratesse und Geduld erfordert, während der Verdienst ein sehr geringer ist.</p> <p>Da von dem galizischen Hilfsverein gar keine Vorkehrungen getroffen sind, Lohndruck, willkürliche Lohnabzüge und Verzögerung der Lohnauszahlung hintanzuhalten, so ist die Haarnetzerei nach kurzem Aufschwunge wieder stark im Rückgange begriffen.</p> <p>Auch der Umstand, daß die Fertigkeit des Netzens nirgends anders zu verwerten ist, als da, wo bestimmte Firmen als Ausbeuter auftreten und daß die Übung des Netzens keine andere Arbeit neben sich duldet, macht die galizischen Mädchen abgeneigt, etwas zu lernen, was sie bei schlechter Bezahlung auch noch äußerlich an gewisse Firmen bindet. In christlichen Industrieorten wird die Haarnetzerei vielfach als Nebenverdienst in den Familien betrieben, unter jüdischen Mädchen in Galizien wurde sie oft von solchen erfaßt, die sich schämten, öffentlich als Arbeiterinnen zu gelten. Man arbeitet die Netze bei geschlossenen Fenstern und Türen, da, </p> </div> </body> </text> </TEI> [33/0033]
obligatorische Krankenversicherung sind uns aus den Kreisen der Arbeiterinnen lebhafte Klagen zu Ohren gekommen.
Da aber, was immer von einem Institut von der Tendenz der J. C. A. ausgeht, gewissermaßen unter der Flagge der J. C. A. im Lande segelt, vorbildlich korrekt und vertrauenswürdig sein muß, so hat die J. C. A. auch dafür zu sorgen, daß die Rechte der Arbeiterinnen unter allen Umständen gewahrt bleiben.
Das geschähe am besten, wenn man die Mädchen über die Vorteile der Organisation, d. h. der Selbstvertretung und Selbsthilfe aufklärte. Da das aber voraussichtlich als ein Eingriff in politisches Gebiet aufgefaßt und zurückgewiesen würde, so bleibt nur die schärfste Kontrolle, sowie eine minutiöse Wahrnehmung der Rechte der Arbeiterinnen übrig, die eine ausbeuterische Übervorteilung nach irgend einer Seite ausschließt.
Auch der galizische Hilfsverein in Wien pflegt die Idee, Arbeitsgelegenheit ins Land zu bringen und scheut die Kosten nicht, einige Experimente zu machen. Seine Hauptleistung war die Einführung der Haarnetzindustrie. Über dieselbe ist zu berichten, daß sich fast überall eine große Enttäuschung eingestellt hat. Wie wir erfuhren, hat man anfangs zu große Versprechungen gemacht, die Mädchen erwarteten von einer Art leichter Spielerei goldene Berge. Heute hat sich herausgestellt, daß die Arbeit eine recht mühsame ist und große Akkuratesse und Geduld erfordert, während der Verdienst ein sehr geringer ist.
Da von dem galizischen Hilfsverein gar keine Vorkehrungen getroffen sind, Lohndruck, willkürliche Lohnabzüge und Verzögerung der Lohnauszahlung hintanzuhalten, so ist die Haarnetzerei nach kurzem Aufschwunge wieder stark im Rückgange begriffen.
Auch der Umstand, daß die Fertigkeit des Netzens nirgends anders zu verwerten ist, als da, wo bestimmte Firmen als Ausbeuter auftreten und daß die Übung des Netzens keine andere Arbeit neben sich duldet, macht die galizischen Mädchen abgeneigt, etwas zu lernen, was sie bei schlechter Bezahlung auch noch äußerlich an gewisse Firmen bindet. In christlichen Industrieorten wird die Haarnetzerei vielfach als Nebenverdienst in den Familien betrieben, unter jüdischen Mädchen in Galizien wurde sie oft von solchen erfaßt, die sich schämten, öffentlich als Arbeiterinnen zu gelten. Man arbeitet die Netze bei geschlossenen Fenstern und Türen, da,
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