Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].Buch Mosis, wo ich mir sagen mußte, daß das wörtliche Durchlesen des dürren geistlosen Ritualgesetzes der Juden ein sehr zweifelhaftes religiöses Verdienst für einen Christen sei. Doch bedarf es wohl kaum der Bemerkung, daß die Genesis, die historischen Bücher des Alten Testamentes, die Psalmen und das Neue Testament desto öfter zur Hand genommen wurden. Von einer orthodoxen, dogmatischen oder gar pietistischen Auffassung der Religion war damals in den Schulen keine Rede. Die Aufklärungsperiode Friedrichs II. wirkte noch immer nach und begünstigte den Rationalismus. In der Hartungschen Schule wurde uns die Geschichte des Alten Testamentes in diesem Sinne vorgetragen. Die Wunder, welche Moses vor und nach dem Auszuge aus Aegypten gethan, fanden alle ihre natürliche Erklärung. Nachdem der Lehrer uns erzählt, daß die Rotte Kora von der Erde verschlungen sei, gab er uns auf, darüber nachzudenken, und ihm in der nächsten Stunde mitzutheilen, wie dies wohl könne zugegangen sein. Man begreift leicht, welche abentheuerlichen Erklärungen bei Knaben von 10-12 Jahren vorkommen mußten. Mit Vergnügen erinnre ich mich eines Tischlersohnes, der uns eine Fallthür mit allen Kunstausdrücken aus seines Vaters Werkstatt sehr anschaulich beschrieb. Ueber die Wunder des Neuen Testamentes sagte Professor Hartung, Christus sei ein geschickter Arzt, ein großer Magnetiseur gewesen, der die Kranken wohl durch Auflegen der Hand habe heilen können. Man sieht, daß hier vom Gefangennehmen der Vernunft unter den Glauben keine Rede war. Mit Dankbarkeit muß ich hier nochmals des Predigers Pauli gedenken. Er hatte selbst einen synoptischen Leit- Buch Mosis, wo ich mir sagen mußte, daß das wörtliche Durchlesen des dürren geistlosen Ritualgesetzes der Juden ein sehr zweifelhaftes religiöses Verdienst für einen Christen sei. Doch bedarf es wohl kaum der Bemerkung, daß die Genesis, die historischen Bücher des Alten Testamentes, die Psalmen und das Neue Testament desto öfter zur Hand genommen wurden. Von einer orthodoxen, dogmatischen oder gar pietistischen Auffassung der Religion war damals in den Schulen keine Rede. Die Aufklärungsperiode Friedrichs II. wirkte noch immer nach und begünstigte den Rationalismus. In der Hartungschen Schule wurde uns die Geschichte des Alten Testamentes in diesem Sinne vorgetragen. Die Wunder, welche Moses vor und nach dem Auszuge aus Aegypten gethan, fanden alle ihre natürliche Erklärung. Nachdem der Lehrer uns erzählt, daß die Rotte Kora von der Erde verschlungen sei, gab er uns auf, darüber nachzudenken, und ihm in der nächsten Stunde mitzutheilen, wie dies wohl könne zugegangen sein. Man begreift leicht, welche abentheuerlichen Erklärungen bei Knaben von 10–12 Jahren vorkommen mußten. Mit Vergnügen erinnre ich mich eines Tischlersohnes, der uns eine Fallthür mit allen Kunstausdrücken aus seines Vaters Werkstatt sehr anschaulich beschrieb. Ueber die Wunder des Neuen Testamentes sagte Professor Hartung, Christus sei ein geschickter Arzt, ein großer Magnetiseur gewesen, der die Kranken wohl durch Auflegen der Hand habe heilen können. Man sieht, daß hier vom Gefangennehmen der Vernunft unter den Glauben keine Rede war. Mit Dankbarkeit muß ich hier nochmals des Predigers Pauli gedenken. Er hatte selbst einen synoptischen Leit- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0168" n="160"/> Buch Mosis, wo ich mir sagen mußte, daß das wörtliche Durchlesen des dürren geistlosen Ritualgesetzes der Juden ein sehr zweifelhaftes religiöses Verdienst für einen Christen sei. Doch bedarf es wohl kaum der Bemerkung, daß die Genesis, die historischen Bücher des Alten Testamentes, die Psalmen und das Neue Testament desto öfter zur Hand genommen wurden. </p><lb/> <p>Von einer orthodoxen, dogmatischen oder gar pietistischen Auffassung der Religion war damals in den Schulen keine Rede. Die Aufklärungsperiode Friedrichs II. wirkte noch immer nach und begünstigte den Rationalismus. In der Hartungschen Schule wurde uns die Geschichte des Alten Testamentes in diesem Sinne vorgetragen. Die Wunder, welche Moses vor und nach dem Auszuge aus Aegypten gethan, fanden alle ihre natürliche Erklärung. Nachdem der Lehrer uns erzählt, daß die Rotte Kora von der Erde verschlungen sei, gab er uns auf, darüber nachzudenken, und ihm in der nächsten Stunde mitzutheilen, wie dies wohl könne zugegangen sein. Man begreift leicht, welche abentheuerlichen Erklärungen bei Knaben von 10–12 Jahren vorkommen mußten. Mit Vergnügen erinnre ich mich eines Tischlersohnes, der uns eine Fallthür mit allen Kunstausdrücken aus seines Vaters Werkstatt sehr anschaulich beschrieb. Ueber die Wunder des Neuen Testamentes sagte Professor Hartung, Christus sei ein geschickter Arzt, ein großer Magnetiseur gewesen, der die Kranken wohl durch Auflegen der Hand habe heilen können. Man sieht, daß hier vom Gefangennehmen der Vernunft unter den Glauben keine Rede war. </p><lb/> <p>Mit Dankbarkeit muß ich hier nochmals des Predigers Pauli gedenken. Er hatte selbst einen synoptischen Leit- </p> </div> </body> </text> </TEI> [160/0168]
Buch Mosis, wo ich mir sagen mußte, daß das wörtliche Durchlesen des dürren geistlosen Ritualgesetzes der Juden ein sehr zweifelhaftes religiöses Verdienst für einen Christen sei. Doch bedarf es wohl kaum der Bemerkung, daß die Genesis, die historischen Bücher des Alten Testamentes, die Psalmen und das Neue Testament desto öfter zur Hand genommen wurden.
Von einer orthodoxen, dogmatischen oder gar pietistischen Auffassung der Religion war damals in den Schulen keine Rede. Die Aufklärungsperiode Friedrichs II. wirkte noch immer nach und begünstigte den Rationalismus. In der Hartungschen Schule wurde uns die Geschichte des Alten Testamentes in diesem Sinne vorgetragen. Die Wunder, welche Moses vor und nach dem Auszuge aus Aegypten gethan, fanden alle ihre natürliche Erklärung. Nachdem der Lehrer uns erzählt, daß die Rotte Kora von der Erde verschlungen sei, gab er uns auf, darüber nachzudenken, und ihm in der nächsten Stunde mitzutheilen, wie dies wohl könne zugegangen sein. Man begreift leicht, welche abentheuerlichen Erklärungen bei Knaben von 10–12 Jahren vorkommen mußten. Mit Vergnügen erinnre ich mich eines Tischlersohnes, der uns eine Fallthür mit allen Kunstausdrücken aus seines Vaters Werkstatt sehr anschaulich beschrieb. Ueber die Wunder des Neuen Testamentes sagte Professor Hartung, Christus sei ein geschickter Arzt, ein großer Magnetiseur gewesen, der die Kranken wohl durch Auflegen der Hand habe heilen können. Man sieht, daß hier vom Gefangennehmen der Vernunft unter den Glauben keine Rede war.
Mit Dankbarkeit muß ich hier nochmals des Predigers Pauli gedenken. Er hatte selbst einen synoptischen Leit-
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