Der arme Viktor kam nach Mitternacht mit ei¬ nem bleichen Angesicht und mit brennenden Augen im Hause des Apothekers an. Er begehrte nichts, um seine gebrochne Stimme nicht zu verrathen. Als er seinen Alltags-Ueberrock im Mondsschimmer hän¬ gen sah; und als er sich wie eine fremde Person vorstellte, der der Rock gehöre und der ihn am Mor¬ gen so freudig auszog und jetzt so trostlos anlege: so ergrif ein Mitleiden, das er mit sich selber hatte, wieder mit zu starkem Druck sein erschöpftes Herz. Marie kam und er wendete nicht einmal die Zeichen dieses Mitleids von ihr weg. Sie stand betroffen -- er sagte ihr mit der sanftesten aus Seufzern ge¬ webten Stimme, er brauche nichts -- und die gute Seele ging ohne Muth zum Trösten und zu Thränen langsam hinaus, aber die ganze Nacht vergoß sie un¬ sichtbare über die fremden, und über einen Kummer, der ihr nicht gesagt war.
Warum öfnete gerade heute das Schicksal alle Adern seines Herzens? Warum ließ es gerade auf diesen Tag die Silberhochzeit des Stadtseniors und die erste Auflage der Hochzeit seiner Tochter mit dem Waisenhausprediger treffen? Warum, wenn doch beide Hochzeitfeste auf diesen Tag zusammenfallen sollten, mußten sie bis nach Mitternacht fortwähren, wo sie den armen Viktor in alle Brandstätten seiner Hofnungen schauen ließen, wo er in einer lichtervol¬
Der arme Viktor kam nach Mitternacht mit ei¬ nem bleichen Angeſicht und mit brennenden Augen im Hauſe des Apothekers an. Er begehrte nichts, um ſeine gebrochne Stimme nicht zu verrathen. Als er ſeinen Alltags-Ueberrock im Mondsſchimmer haͤn¬ gen ſah; und als er ſich wie eine fremde Perſon vorſtellte, der der Rock gehoͤre und der ihn am Mor¬ gen ſo freudig auszog und jetzt ſo troſtlos anlege: ſo ergrif ein Mitleiden, das er mit ſich ſelber hatte, wieder mit zu ſtarkem Druck ſein erſchoͤpftes Herz. Marie kam und er wendete nicht einmal die Zeichen dieſes Mitleids von ihr weg. Sie ſtand betroffen — er ſagte ihr mit der ſanfteſten aus Seufzern ge¬ webten Stimme, er brauche nichts — und die gute Seele ging ohne Muth zum Troͤſten und zu Thraͤnen langſam hinaus, aber die ganze Nacht vergoß ſie un¬ ſichtbare uͤber die fremden, und uͤber einen Kummer, der ihr nicht geſagt war.
Warum oͤfnete gerade heute das Schickſal alle Adern ſeines Herzens? Warum ließ es gerade auf dieſen Tag die Silberhochzeit des Stadtſeniors und die erſte Auflage der Hochzeit ſeiner Tochter mit dem Waiſenhausprediger treffen? Warum, wenn doch beide Hochzeitfeſte auf dieſen Tag zuſammenfallen ſollten, mußten ſie bis nach Mitternacht fortwaͤhren, wo ſie den armen Viktor in alle Brandſtaͤtten ſeiner Hofnungen ſchauen ließen, wo er in einer lichtervol¬
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Der arme Viktor kam nach Mitternacht mit ei¬
nem bleichen Angeſicht und mit brennenden Augen
im Hauſe des Apothekers an. Er begehrte nichts,
um ſeine gebrochne Stimme nicht zu verrathen. Als
er ſeinen Alltags-Ueberrock im Mondsſchimmer haͤn¬
gen ſah; und als er ſich wie eine fremde Perſon
vorſtellte, der der Rock gehoͤre und der ihn am Mor¬
gen ſo freudig auszog und jetzt ſo troſtlos anlege: ſo
ergrif ein Mitleiden, das er mit ſich ſelber hatte,
wieder mit zu ſtarkem Druck ſein erſchoͤpftes Herz.
Marie kam und er wendete nicht einmal die Zeichen
dieſes Mitleids von ihr weg. Sie ſtand betroffen
— er ſagte ihr mit der ſanfteſten aus Seufzern ge¬
webten Stimme, er brauche nichts — und die gute
Seele ging ohne Muth zum Troͤſten und zu Thraͤnen
langſam hinaus, aber die ganze Nacht vergoß ſie un¬
ſichtbare uͤber die fremden, und uͤber einen Kummer,
der ihr nicht geſagt war.
Warum oͤfnete gerade heute das Schickſal alle
Adern ſeines Herzens? Warum ließ es gerade auf
dieſen Tag die Silberhochzeit des Stadtſeniors und
die erſte Auflage der Hochzeit ſeiner Tochter mit
dem Waiſenhausprediger treffen? Warum, wenn doch
beide Hochzeitfeſte auf dieſen Tag zuſammenfallen
ſollten, mußten ſie bis nach Mitternacht fortwaͤhren,
wo ſie den armen Viktor in alle Brandſtaͤtten ſeiner
Hofnungen ſchauen ließen, wo er in einer lichtervol¬
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/105>, abgerufen am 22.11.2024.
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