Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

recht freudig sagen: nimm immer mein schlagendes
Herz in deine Hand, du Abgesandter der Ewigkeit
und sorge für meine Seele.

"Bist du aber nicht jung (wird der Engel sagen)
hast du nicht erst diese Erde betreten? Soll ich dich
schon zurückführen, eh' sie ihren Frühling hat?"

Aber ich werde antworten: schau' diese unterge¬
gangnen Wangen an und diese ermüdeten Augen und
drücke sie nur zu -- o lege den Leichenstein *) an
meine Brust, damit er alle Wunden aussauge und
nicht eher abfalle als bis sie ausgeheilet sind -- ach
ich habe wohl nichts Gutes in der Welt gethan,
aber auch nichts Böses.

Dann sagt der Engel: "wenn ich dich berühre,
"so erstarrest du -- der Frühling und die Menschen
"und die ganze Erde verschwinden und ich allein
"stehe neben dir -- Ist denn deine junge Seele schon
"so müde und so wund? Welche Leiden sind denn
"schon in deiner Brust?"

Berühre mich nur, guter Engel! Jetzt sagt er:
wenn ich dich berühre, so zerstäubst du und alle
deine Geliebten sehen nichts mehr von dir --

O berühre mich! . . .

*) Der Schlangenstein saugt sich so lange an die Wunde an
bis er ihren Gift weggesogen.

recht freudig ſagen: nimm immer mein ſchlagendes
Herz in deine Hand, du Abgeſandter der Ewigkeit
und ſorge fuͤr meine Seele.

»Biſt du aber nicht jung (wird der Engel ſagen)
haſt du nicht erſt dieſe Erde betreten? Soll ich dich
ſchon zuruͤckfuͤhren, eh' ſie ihren Fruͤhling hat?«

Aber ich werde antworten: ſchau' dieſe unterge¬
gangnen Wangen an und dieſe ermuͤdeten Augen und
druͤcke ſie nur zu — o lege den Leichenſtein *) an
meine Bruſt, damit er alle Wunden ausſauge und
nicht eher abfalle als bis ſie ausgeheilet ſind — ach
ich habe wohl nichts Gutes in der Welt gethan,
aber auch nichts Boͤſes.

Dann ſagt der Engel: »wenn ich dich beruͤhre,
»ſo erſtarreſt du — der Fruͤhling und die Menſchen
»und die ganze Erde verſchwinden und ich allein
»ſtehe neben dir — Iſt denn deine junge Seele ſchon
»ſo muͤde und ſo wund? Welche Leiden ſind denn
»ſchon in deiner Bruſt?«

Beruͤhre mich nur, guter Engel! Jetzt ſagt er:
wenn ich dich beruͤhre, ſo zerſtaͤubſt du und alle
deine Geliebten ſehen nichts mehr von dir —

O beruͤhre mich! . . .

*) Der Schlangenſtein ſaugt ſich ſo lange an die Wunde an
bis er ihren Gift weggeſogen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0194" n="184"/>
recht freudig &#x017F;agen: nimm immer mein &#x017F;chlagendes<lb/>
Herz in deine Hand, du Abge&#x017F;andter der Ewigkeit<lb/>
und &#x017F;orge fu&#x0364;r meine Seele.</p><lb/>
            <p>»Bi&#x017F;t du aber nicht jung (wird der Engel &#x017F;agen)<lb/>
ha&#x017F;t du nicht er&#x017F;t die&#x017F;e Erde betreten? Soll ich dich<lb/>
&#x017F;chon zuru&#x0364;ckfu&#x0364;hren, eh' &#x017F;ie ihren Fru&#x0364;hling hat?«</p><lb/>
            <p>Aber ich werde antworten: &#x017F;chau' die&#x017F;e unterge¬<lb/>
gangnen Wangen an und die&#x017F;e ermu&#x0364;deten Augen und<lb/>
dru&#x0364;cke &#x017F;ie nur zu &#x2014; o lege den Leichen&#x017F;tein <note place="foot" n="*)">Der Schlangen&#x017F;tein &#x017F;augt &#x017F;ich &#x017F;o lange an die Wunde an<lb/>
bis er ihren Gift wegge&#x017F;ogen.<lb/></note> an<lb/>
meine Bru&#x017F;t, damit er alle Wunden aus&#x017F;auge und<lb/>
nicht eher abfalle als bis &#x017F;ie ausgeheilet &#x017F;ind &#x2014; ach<lb/>
ich habe wohl nichts Gutes in der Welt gethan,<lb/>
aber auch nichts Bo&#x0364;&#x017F;es.</p>
            <p>Dann &#x017F;agt der Engel: »wenn ich dich beru&#x0364;hre,<lb/>
»&#x017F;o er&#x017F;tarre&#x017F;t du &#x2014; der Fru&#x0364;hling und die Men&#x017F;chen<lb/>
»und die ganze Erde ver&#x017F;chwinden und ich allein<lb/>
»&#x017F;tehe neben dir &#x2014; I&#x017F;t denn deine junge Seele &#x017F;chon<lb/>
»&#x017F;o mu&#x0364;de und &#x017F;o wund? Welche Leiden &#x017F;ind denn<lb/>
»&#x017F;chon in deiner Bru&#x017F;t?«</p><lb/>
            <p>Beru&#x0364;hre mich nur, guter Engel! Jetzt &#x017F;agt er:<lb/>
wenn ich dich beru&#x0364;hre, &#x017F;o zer&#x017F;ta&#x0364;ub&#x017F;t du und alle<lb/>
deine Geliebten &#x017F;ehen nichts mehr von dir &#x2014;</p><lb/>
            <p>O beru&#x0364;hre mich! . . .</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0194] recht freudig ſagen: nimm immer mein ſchlagendes Herz in deine Hand, du Abgeſandter der Ewigkeit und ſorge fuͤr meine Seele. »Biſt du aber nicht jung (wird der Engel ſagen) haſt du nicht erſt dieſe Erde betreten? Soll ich dich ſchon zuruͤckfuͤhren, eh' ſie ihren Fruͤhling hat?« Aber ich werde antworten: ſchau' dieſe unterge¬ gangnen Wangen an und dieſe ermuͤdeten Augen und druͤcke ſie nur zu — o lege den Leichenſtein *) an meine Bruſt, damit er alle Wunden ausſauge und nicht eher abfalle als bis ſie ausgeheilet ſind — ach ich habe wohl nichts Gutes in der Welt gethan, aber auch nichts Boͤſes. Dann ſagt der Engel: »wenn ich dich beruͤhre, »ſo erſtarreſt du — der Fruͤhling und die Menſchen »und die ganze Erde verſchwinden und ich allein »ſtehe neben dir — Iſt denn deine junge Seele ſchon »ſo muͤde und ſo wund? Welche Leiden ſind denn »ſchon in deiner Bruſt?« Beruͤhre mich nur, guter Engel! Jetzt ſagt er: wenn ich dich beruͤhre, ſo zerſtaͤubſt du und alle deine Geliebten ſehen nichts mehr von dir — O beruͤhre mich! . . . *) Der Schlangenſtein ſaugt ſich ſo lange an die Wunde an bis er ihren Gift weggeſogen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/194
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/194>, abgerufen am 13.05.2024.