Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

"Spiegel -- du Schauder im Schauder! -- Ziehet
"den Schleier vom Leichnam weg! Ich will den
"Todten keck anschauen bis es mich zerstört." . . .

-- Jeder schauderte nach; aber ein Engländer zog
den Todtenschleier weg. . . . . Starr, sprachlos er¬
griffen, erbebend sah Viktor auf das enthüllte Ge¬
sicht, das auch um seine Seele hing; aber endlich
ergossen sich Thränen über seine kalten Wangen und
er sprach leiser wie wenn sich sein Herz auflößte:

"Seht wie der Leichnam lächelt! Warum lächelst
du denn so, Sebastian? Warst du etwan so glücklich
auf der Erde, daß dein Mund in einer Entzückung
erkaltete? . . . Nein, glücklich warst du wohl nicht
-- die Freude selber war oft für dich ein Samenge¬
häuse des Schmerzes -- Und du sagtest selber recht
oft: ich bin schon zufrieden und ich verdiene kaum
meine Hofnungen und Wünsche, geschweige ihre Er¬
füllung." --

"Flamin! schaue dieses umgelegte Gesicht hier an
"-- es lächelt aus Freundschaft, nicht aus Freude
"-- Flamin, diese erloschene Brust war über ein
"Herz gewölbt, das dich ohne Gränzen liebt und bis
"in den Tod. . . .

"Und das ist im Ganzen das einzige Unglück des
"armen Seeligen: an und für sich und seiner origi¬
"nellen Lage und Laune wegen hätte der gute Ba¬
"stian schon gut genug fahren können; aber er war

"zu

»Spiegel — du Schauder im Schauder! — Ziehet
»den Schleier vom Leichnam weg! Ich will den
»Todten keck anſchauen bis es mich zerſtoͤrt.« . . .

— Jeder ſchauderte nach; aber ein Englaͤnder zog
den Todtenſchleier weg. . . . . Starr, ſprachlos er¬
griffen, erbebend ſah Viktor auf das enthuͤllte Ge¬
ſicht, das auch um ſeine Seele hing; aber endlich
ergoſſen ſich Thraͤnen uͤber ſeine kalten Wangen und
er ſprach leiſer wie wenn ſich ſein Herz aufloͤßte:

»Seht wie der Leichnam laͤchelt! Warum laͤchelſt
du denn ſo, Sebaſtian? Warſt du etwan ſo gluͤcklich
auf der Erde, daß dein Mund in einer Entzuͤckung
erkaltete? . . . Nein, gluͤcklich warſt du wohl nicht
— die Freude ſelber war oft fuͤr dich ein Samenge¬
haͤuſe des Schmerzes — Und du ſagteſt ſelber recht
oft: ich bin ſchon zufrieden und ich verdiene kaum
meine Hofnungen und Wuͤnſche, geſchweige ihre Er¬
fuͤllung.» —

»Flamin! ſchaue dieſes umgelegte Geſicht hier an
»— es laͤchelt aus Freundſchaft, nicht aus Freude
»— Flamin, dieſe erloſchene Bruſt war uͤber ein
»Herz gewoͤlbt, das dich ohne Graͤnzen liebt und bis
»in den Tod. . . .

»Und das iſt im Ganzen das einzige Ungluͤck des
»armen Seeligen: an und fuͤr ſich und ſeiner origi¬
»nellen Lage und Laune wegen haͤtte der gute Ba¬
»ſtian ſchon gut genug fahren koͤnnen; aber er war

»zu
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0362" n="352"/>
»Spiegel &#x2014; du Schauder im Schauder! &#x2014; Ziehet<lb/>
»den Schleier vom Leichnam weg! Ich will den<lb/>
»Todten keck an&#x017F;chauen bis es mich zer&#x017F;to&#x0364;rt.« . . .</p><lb/>
            <p>&#x2014; Jeder &#x017F;chauderte nach; aber ein Engla&#x0364;nder zog<lb/>
den Todten&#x017F;chleier weg. . . . . Starr, &#x017F;prachlos er¬<lb/>
griffen, erbebend &#x017F;ah Viktor auf das enthu&#x0364;llte Ge¬<lb/>
&#x017F;icht, das auch um &#x017F;eine Seele hing; aber endlich<lb/>
ergo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich Thra&#x0364;nen u&#x0364;ber &#x017F;eine kalten Wangen und<lb/>
er &#x017F;prach lei&#x017F;er wie wenn &#x017F;ich &#x017F;ein Herz auflo&#x0364;ßte:</p><lb/>
            <p>»Seht wie der Leichnam la&#x0364;chelt! Warum la&#x0364;chel&#x017F;t<lb/>
du denn &#x017F;o, Seba&#x017F;tian? War&#x017F;t du etwan &#x017F;o glu&#x0364;cklich<lb/>
auf der Erde, daß dein Mund in einer Entzu&#x0364;ckung<lb/>
erkaltete? . . . Nein, glu&#x0364;cklich war&#x017F;t du wohl nicht<lb/>
&#x2014; die Freude &#x017F;elber war oft fu&#x0364;r dich ein Samenge¬<lb/>
ha&#x0364;u&#x017F;e des Schmerzes &#x2014; Und du &#x017F;agte&#x017F;t &#x017F;elber recht<lb/>
oft: ich bin &#x017F;chon zufrieden und ich verdiene kaum<lb/>
meine Hofnungen und Wu&#x0364;n&#x017F;che, ge&#x017F;chweige ihre Er¬<lb/>
fu&#x0364;llung.» &#x2014;</p><lb/>
            <p>»Flamin! &#x017F;chaue die&#x017F;es umgelegte Ge&#x017F;icht hier an<lb/>
»&#x2014; es la&#x0364;chelt aus Freund&#x017F;chaft, nicht aus Freude<lb/>
»&#x2014; Flamin, die&#x017F;e erlo&#x017F;chene Bru&#x017F;t war u&#x0364;ber ein<lb/>
»Herz gewo&#x0364;lbt, das dich ohne Gra&#x0364;nzen liebt und bis<lb/>
»in den Tod. . . .</p><lb/>
            <p>»Und das i&#x017F;t im Ganzen das einzige Unglu&#x0364;ck des<lb/>
»armen Seeligen: an und fu&#x0364;r &#x017F;ich und &#x017F;einer origi¬<lb/>
»nellen Lage und Laune wegen ha&#x0364;tte der gute Ba¬<lb/>
»&#x017F;tian &#x017F;chon gut genug fahren ko&#x0364;nnen; aber er war<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">»zu<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0362] »Spiegel — du Schauder im Schauder! — Ziehet »den Schleier vom Leichnam weg! Ich will den »Todten keck anſchauen bis es mich zerſtoͤrt.« . . . — Jeder ſchauderte nach; aber ein Englaͤnder zog den Todtenſchleier weg. . . . . Starr, ſprachlos er¬ griffen, erbebend ſah Viktor auf das enthuͤllte Ge¬ ſicht, das auch um ſeine Seele hing; aber endlich ergoſſen ſich Thraͤnen uͤber ſeine kalten Wangen und er ſprach leiſer wie wenn ſich ſein Herz aufloͤßte: »Seht wie der Leichnam laͤchelt! Warum laͤchelſt du denn ſo, Sebaſtian? Warſt du etwan ſo gluͤcklich auf der Erde, daß dein Mund in einer Entzuͤckung erkaltete? . . . Nein, gluͤcklich warſt du wohl nicht — die Freude ſelber war oft fuͤr dich ein Samenge¬ haͤuſe des Schmerzes — Und du ſagteſt ſelber recht oft: ich bin ſchon zufrieden und ich verdiene kaum meine Hofnungen und Wuͤnſche, geſchweige ihre Er¬ fuͤllung.» — »Flamin! ſchaue dieſes umgelegte Geſicht hier an »— es laͤchelt aus Freundſchaft, nicht aus Freude »— Flamin, dieſe erloſchene Bruſt war uͤber ein »Herz gewoͤlbt, das dich ohne Graͤnzen liebt und bis »in den Tod. . . . »Und das iſt im Ganzen das einzige Ungluͤck des »armen Seeligen: an und fuͤr ſich und ſeiner origi¬ »nellen Lage und Laune wegen haͤtte der gute Ba¬ »ſtian ſchon gut genug fahren koͤnnen; aber er war »zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/362
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/362>, abgerufen am 26.11.2024.