Viktor am Morgen nach der durchreißten Nacht über Maienthal geschauet hatte. O wie zog sich die le¬ bendige Ebene Gottes, der Vorgrund einer Sonne und eines Edens, in so unbändigen, grünenden, athmenden, wehenden Massen dahin! Wie hing der Himmel voll Berge aus Duft, voll Eißfelder aus Licht! Und ein sanfter Morgenwind schlich sich aus dem mit Wolkenflor verhangnen Morgenthor und spielte mit Himmel und Erde, mit dem gelben Blüm¬ gen und mit der breiten Wolke darüber, mit der Augenwimper unter einer Thräne und mit durch¬ wühlten Kornfluren! -- Wie wird das Auge so groß, wenn gejagte Nachtstücke der Wolkenschatten dem hellen Sonnenschein der Erde durchschneiden, wie wird das Herz so groß, wenn der Morgenwind die geflügelten Schatten bald über Berge schleudert, bald in Glanzteiche, bald in gebückte Saaten! -- Aber rund auf die Wälder hatten sich stille Eißber¬ ge aus Wolken gelagert. -- -- Ach dieses mit Tag und Nacht gefleckte Gefilde, dieser Wall aus Nebel¬ gletschern stellte ja Viktors Herz in den alten Traum zurück, wo er Klotilde auf einem Eißberg mit aus¬ gebreiteten Armen sah! -- Ach auf dieser über den südlichen Berg reichenden Felsenspitze konnte er die Insel der Vereinigung dunkel mit ihren Gipfeln und mit ihren weissen Tempel liegen sehen, und das
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Viktor am Morgen nach der durchreißten Nacht uͤber Maienthal geſchauet hatte. O wie zog ſich die le¬ bendige Ebene Gottes, der Vorgrund einer Sonne und eines Edens, in ſo unbaͤndigen, gruͤnenden, athmenden, wehenden Maſſen dahin! Wie hing der Himmel voll Berge aus Duft, voll Eißfelder aus Licht! Und ein ſanfter Morgenwind ſchlich ſich aus dem mit Wolkenflor verhangnen Morgenthor und ſpielte mit Himmel und Erde, mit dem gelben Bluͤm¬ gen und mit der breiten Wolke daruͤber, mit der Augenwimper unter einer Thraͤne und mit durch¬ wuͤhlten Kornfluren! — Wie wird das Auge ſo groß, wenn gejagte Nachtſtuͤcke der Wolkenſchatten dem hellen Sonnenſchein der Erde durchſchneiden, wie wird das Herz ſo groß, wenn der Morgenwind die gefluͤgelten Schatten bald uͤber Berge ſchleudert, bald in Glanzteiche, bald in gebuͤckte Saaten! — Aber rund auf die Waͤlder hatten ſich ſtille Eißber¬ ge aus Wolken gelagert. — — Ach dieſes mit Tag und Nacht gefleckte Gefilde, dieſer Wall aus Nebel¬ gletſchern ſtellte ja Viktors Herz in den alten Traum zuruͤck, wo er Klotilde auf einem Eißberg mit aus¬ gebreiteten Armen ſah! — Ach auf dieſer uͤber den ſuͤdlichen Berg reichenden Felſenſpitze konnte er die Inſel der Vereinigung dunkel mit ihren Gipfeln und mit ihren weiſſen Tempel liegen ſehen, und das
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Viktor am Morgen nach der durchreißten Nacht uͤber
Maienthal geſchauet hatte. O wie zog ſich die le¬
bendige Ebene Gottes, der Vorgrund einer Sonne
und eines Edens, in ſo unbaͤndigen, gruͤnenden,
athmenden, wehenden Maſſen dahin! Wie hing der
Himmel voll Berge aus Duft, voll Eißfelder aus
Licht! Und ein ſanfter Morgenwind ſchlich ſich aus
dem mit Wolkenflor verhangnen Morgenthor und
ſpielte mit Himmel und Erde, mit dem gelben Bluͤm¬
gen und mit der breiten Wolke daruͤber, mit der
Augenwimper unter einer Thraͤne und mit durch¬
wuͤhlten Kornfluren! — Wie wird das Auge ſo
groß, wenn gejagte Nachtſtuͤcke der Wolkenſchatten
dem hellen Sonnenſchein der Erde durchſchneiden,
wie wird das Herz ſo groß, wenn der Morgenwind
die gefluͤgelten Schatten bald uͤber Berge ſchleudert,
bald in Glanzteiche, bald in gebuͤckte Saaten! —
Aber rund auf die Waͤlder hatten ſich ſtille Eißber¬
ge aus Wolken gelagert. — — Ach dieſes mit Tag
und Nacht gefleckte Gefilde, dieſer Wall aus Nebel¬
gletſchern ſtellte ja Viktors Herz in den alten Traum
zuruͤck, wo er Klotilde auf einem Eißberg mit aus¬
gebreiteten Armen ſah! — Ach auf dieſer uͤber den
ſuͤdlichen Berg reichenden Felſenſpitze konnte er die
Inſel der Vereinigung dunkel mit ihren Gipfeln
und mit ihren weiſſen Tempel liegen ſehen, und das
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/173>, abgerufen am 26.11.2024.
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