ich weiter gehe, -- noch von dieser zu weichen Giu¬ lia, die wie eine Morgensonnenuhr, vor dem Mit¬ tage im Schatten und Kühlen war, die wie eine Taube die Flügel dem Regen und Weinen ausein¬ ander faltete -- noch von ihren Schwestern, die im zweiten Jahrzehend das Skelet des Todes ganz mit Blumen überhängen, daß sie seine Glieder nicht se¬ hen können und die ihren weißen Arm blos auf ei¬ nen Myrthenzweig der Liebe stützen wie auf einen Aderlaßstock und ruhig dem Verbluten seiner zer¬ schnittenen Adern zuschauen! --
Ich hätte nicht einmal dieses gesagt, wenn nicht Viktor es gedacht hätte, dessen Herz ein unendlicher Gram und eine unendliche Liebe tödtlich auseinander zogen: denn ach wie weit war nicht seine unersetzli¬ che Klotilde schon auf dem Wege, ihrer Freundin nachzukommen und das ungeliebte Herz in der Erde zu verbergen, wie man im Froste Nelken nieder¬ legt?
Die Sonne stieg tiefer -- der Mond stieg höher -- Viktor sah Klotilden wie eine Heilige, wie einen ätherisch verkörperten Engel in einer gegen Abend geöfneten Nische ruhen -- das kleine gestern ge¬ nannte Mädgen spielte auf ihrem Schoos mit einer neuen Puppe -- ihm war als seh' er sie gen Himmel schweben -- und als sie ihre großen Augenlieder aus den Thränen für die geschiedne Freundin, deren
ich weiter gehe, — noch von dieſer zu weichen Giu¬ lia, die wie eine Morgenſonnenuhr, vor dem Mit¬ tage im Schatten und Kuͤhlen war, die wie eine Taube die Fluͤgel dem Regen und Weinen ausein¬ ander faltete — noch von ihren Schweſtern, die im zweiten Jahrzehend das Skelet des Todes ganz mit Blumen uͤberhaͤngen, daß ſie ſeine Glieder nicht ſe¬ hen koͤnnen und die ihren weißen Arm blos auf ei¬ nen Myrthenzweig der Liebe ſtuͤtzen wie auf einen Aderlaßſtock und ruhig dem Verbluten ſeiner zer¬ ſchnittenen Adern zuſchauen! —
Ich haͤtte nicht einmal dieſes geſagt, wenn nicht Viktor es gedacht haͤtte, deſſen Herz ein unendlicher Gram und eine unendliche Liebe toͤdtlich auseinander zogen: denn ach wie weit war nicht ſeine unerſetzli¬ che Klotilde ſchon auf dem Wege, ihrer Freundin nachzukommen und das ungeliebte Herz in der Erde zu verbergen, wie man im Froſte Nelken nieder¬ legt?
Die Sonne ſtieg tiefer — der Mond ſtieg hoͤher — Viktor ſah Klotilden wie eine Heilige, wie einen aͤtheriſch verkoͤrperten Engel in einer gegen Abend geoͤfneten Niſche ruhen — das kleine geſtern ge¬ nannte Maͤdgen ſpielte auf ihrem Schoos mit einer neuen Puppe — ihm war als ſeh' er ſie gen Himmel ſchweben — und als ſie ihre großen Augenlieder aus den Thraͤnen fuͤr die geſchiedne Freundin, deren
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ich weiter gehe, — noch von dieſer zu weichen Giu¬
lia, die wie eine Morgenſonnenuhr, vor dem Mit¬
tage im Schatten und Kuͤhlen war, die wie eine
Taube die Fluͤgel dem Regen und Weinen ausein¬
ander faltete — noch von ihren Schweſtern, die im
zweiten Jahrzehend das Skelet des Todes ganz mit
Blumen uͤberhaͤngen, daß ſie ſeine Glieder nicht ſe¬
hen koͤnnen und die ihren weißen Arm blos auf ei¬
nen Myrthenzweig der Liebe ſtuͤtzen wie auf einen
Aderlaßſtock und ruhig dem Verbluten ſeiner zer¬
ſchnittenen Adern zuſchauen! —
Ich haͤtte nicht einmal dieſes geſagt, wenn nicht
Viktor es gedacht haͤtte, deſſen Herz ein unendlicher
Gram und eine unendliche Liebe toͤdtlich auseinander
zogen: denn ach wie weit war nicht ſeine unerſetzli¬
che Klotilde ſchon auf dem Wege, ihrer Freundin
nachzukommen und das ungeliebte Herz in der Erde
zu verbergen, wie man im Froſte Nelken nieder¬
legt?
Die Sonne ſtieg tiefer — der Mond ſtieg hoͤher
— Viktor ſah Klotilden wie eine Heilige, wie einen
aͤtheriſch verkoͤrperten Engel in einer gegen Abend
geoͤfneten Niſche ruhen — das kleine geſtern ge¬
nannte Maͤdgen ſpielte auf ihrem Schoos mit einer
neuen Puppe — ihm war als ſeh' er ſie gen Himmel
ſchweben — und als ſie ihre großen Augenlieder
aus den Thraͤnen fuͤr die geſchiedne Freundin, deren
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/217>, abgerufen am 23.11.2024.
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