schrieben haben, wenn die Götter eine Gestalt an¬ nähmen, so müßt' es die vollkommenste, die eines Zirkels seyn: ich könnte zwar daraus folgern, ein krummer Rücken wäre wenigstens eine Annäherung zur Göttergestalt, weil's ein Bogen und Segment aus einem Zirkel wäre -- aber ich mag nicht: denn das Physische ist Kinderei dabei und nur in so fern von Belang, als es das innere Krümmen und Krie¬ chen der Seele theils anzeigt, theils (z. B. durch Verengerung der Brust) befördert. Sogar am Hofe würde man das äussere Krümmen erlassen, wenn man gewiß wissen könnte, daß das edlere, innere der Denkungsart da wäre ohne das Zeichen, denn da nach Kant Unterwürfigkeit und Niederschlagung un¬ sers Eigendünkels die Foderung der reinern und der christlichen Moral ist: so muß einer, der gar keine moralischen Vorzüge hat, mit dem Selbstbewußtseyn davon noch tiefer nieder als zur Demuth, die schon der Tugendhafte hat, er muß zu dem sinken, was ich ein edles Kriechen nenne. Ich gestehe, ich ver¬ achte die Uebung nicht, die darin die kleinen Re¬ geln der Lebensart gewähren, die ja ohnehin nichts seyn soll als die Tugend in Kleinigkeiten, die Re¬ geln nämlich, daß man sich bückt wenn man wider¬ spricht -- wenn man lobt -- wenn man eine Belei¬ digung erfährt -- wenn man eine anthut -- wenn man den andern bückt -- wenn man gerade eben
ſchrieben haben, wenn die Goͤtter eine Geſtalt an¬ naͤhmen, ſo muͤßt' es die vollkommenſte, die eines Zirkels ſeyn: ich koͤnnte zwar daraus folgern, ein krummer Ruͤcken waͤre wenigſtens eine Annaͤherung zur Goͤttergeſtalt, weil's ein Bogen und Segment aus einem Zirkel waͤre — aber ich mag nicht: denn das Phyſiſche iſt Kinderei dabei und nur in ſo fern von Belang, als es das innere Kruͤmmen und Krie¬ chen der Seele theils anzeigt, theils (z. B. durch Verengerung der Bruſt) befoͤrdert. Sogar am Hofe wuͤrde man das aͤuſſere Kruͤmmen erlaſſen, wenn man gewiß wiſſen koͤnnte, daß das edlere, innere der Denkungsart da waͤre ohne das Zeichen, denn da nach Kant Unterwuͤrfigkeit und Niederſchlagung un¬ ſers Eigenduͤnkels die Foderung der reinern und der chriſtlichen Moral iſt: ſo muß einer, der gar keine moraliſchen Vorzuͤge hat, mit dem Selbſtbewußtſeyn davon noch tiefer nieder als zur Demuth, die ſchon der Tugendhafte hat, er muß zu dem ſinken, was ich ein edles Kriechen nenne. Ich geſtehe, ich ver¬ achte die Uebung nicht, die darin die kleinen Re¬ geln der Lebensart gewaͤhren, die ja ohnehin nichts ſeyn ſoll als die Tugend in Kleinigkeiten, die Re¬ geln naͤmlich, daß man ſich buͤckt wenn man wider¬ ſpricht — wenn man lobt — wenn man eine Belei¬ digung erfaͤhrt — wenn man eine anthut — wenn man den andern buͤckt — wenn man gerade eben
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ſchrieben haben, wenn die Goͤtter eine Geſtalt an¬
naͤhmen, ſo muͤßt' es die vollkommenſte, die eines
Zirkels ſeyn: ich koͤnnte zwar daraus folgern, ein
krummer Ruͤcken waͤre wenigſtens eine Annaͤherung
zur Goͤttergeſtalt, weil's ein Bogen und Segment
aus einem Zirkel waͤre — aber ich mag nicht: denn
das Phyſiſche iſt Kinderei dabei und nur in ſo fern
von Belang, als es das innere Kruͤmmen und Krie¬
chen der Seele theils anzeigt, theils (z. B. durch
Verengerung der Bruſt) befoͤrdert. Sogar am Hofe
wuͤrde man das aͤuſſere Kruͤmmen erlaſſen, wenn
man gewiß wiſſen koͤnnte, daß das edlere, innere der
Denkungsart da waͤre ohne das Zeichen, denn da
nach Kant Unterwuͤrfigkeit und Niederſchlagung un¬
ſers Eigenduͤnkels die Foderung der reinern und der
chriſtlichen Moral iſt: ſo muß einer, der gar keine
moraliſchen Vorzuͤge hat, mit dem Selbſtbewußtſeyn
davon noch tiefer nieder als zur Demuth, die ſchon
der Tugendhafte hat, er muß zu dem ſinken, was
ich ein edles Kriechen nenne. Ich geſtehe, ich ver¬
achte die Uebung nicht, die darin die kleinen Re¬
geln der Lebensart gewaͤhren, die ja ohnehin nichts
ſeyn ſoll als die Tugend in Kleinigkeiten, die Re¬
geln naͤmlich, daß man ſich buͤckt wenn man wider¬
ſpricht — wenn man lobt — wenn man eine Belei¬
digung erfaͤhrt — wenn man eine anthut — wenn
man den andern buͤckt — wenn man gerade eben
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/260>, abgerufen am 23.11.2024.
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