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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.

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Ich kann nicht schreiben, der Leser kann sich's
leicht vorstellen, wie Viktor die ersten Maitage ver¬
lebte oder vertrauerte: denn er kann sich's nicht leicht
vorstellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande,
die ihn mit Flamin verschlangen, für dünne wenige
Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechsen; es
sind aber weiche Nerven und feste Muskeln das Bind¬
werk ihrer Seelen. Er selber wußte nicht, wie sehr
er ihn liebe als da er damit aufhören sollte. In
diesen gemeinschaftlichen Irrthum fallen wir alle,
Held, Leser und Schreiber, aus Einem Grunde:
wenn man einem Freunde, den man schon lange
liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben
konnte aus Mangel der Gelegenheit: so quälet man
sich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn.
Aber dieser Vorwurf selber ist der schönste Beweis
der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zusammen,
ihn selber zu bereden, er werde ein kälterer Freund.
Die Vesperturnire um Klotilde, diese Disputationen
pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer
kränkte er sich mit der Selbstrezension, daß er zu¬
weilen seinem Freunde kleine Opfer abgeschlagen, z.
B. seinetwegen Versäumung einer Lustpartie, das
Wegbleiben aus gewissen Regierungsraths-Häusern,
die Flamin haßte. Aber in der Freundschaft sind
große Opfer leichter als kleine -- man opfert ihr
lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das

Ich kann nicht ſchreiben, der Leſer kann ſich's
leicht vorſtellen, wie Viktor die erſten Maitage ver¬
lebte oder vertrauerte: denn er kann ſich's nicht leicht
vorſtellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande,
die ihn mit Flamin verſchlangen, fuͤr duͤnne wenige
Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechſen; es
ſind aber weiche Nerven und feſte Muſkeln das Bind¬
werk ihrer Seelen. Er ſelber wußte nicht, wie ſehr
er ihn liebe als da er damit aufhoͤren ſollte. In
dieſen gemeinſchaftlichen Irrthum fallen wir alle,
Held, Leſer und Schreiber, aus Einem Grunde:
wenn man einem Freunde, den man ſchon lange
liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben
konnte aus Mangel der Gelegenheit: ſo quaͤlet man
ſich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn.
Aber dieſer Vorwurf ſelber iſt der ſchoͤnſte Beweis
der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zuſammen,
ihn ſelber zu bereden, er werde ein kaͤlterer Freund.
Die Veſperturnire um Klotilde, dieſe Diſputationen
pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer
kraͤnkte er ſich mit der Selbſtrezenſion, daß er zu¬
weilen ſeinem Freunde kleine Opfer abgeſchlagen, z.
B. ſeinetwegen Verſaͤumung einer Luſtpartie, das
Wegbleiben aus gewiſſen Regierungsraths-Haͤuſern,
die Flamin haßte. Aber in der Freundſchaft ſind
große Opfer leichter als kleine — man opfert ihr
lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das

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[79/0089] Ich kann nicht ſchreiben, der Leſer kann ſich's leicht vorſtellen, wie Viktor die erſten Maitage ver¬ lebte oder vertrauerte: denn er kann ſich's nicht leicht vorſtellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande, die ihn mit Flamin verſchlangen, fuͤr duͤnne wenige Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechſen; es ſind aber weiche Nerven und feſte Muſkeln das Bind¬ werk ihrer Seelen. Er ſelber wußte nicht, wie ſehr er ihn liebe als da er damit aufhoͤren ſollte. In dieſen gemeinſchaftlichen Irrthum fallen wir alle, Held, Leſer und Schreiber, aus Einem Grunde: wenn man einem Freunde, den man ſchon lange liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben konnte aus Mangel der Gelegenheit: ſo quaͤlet man ſich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn. Aber dieſer Vorwurf ſelber iſt der ſchoͤnſte Beweis der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zuſammen, ihn ſelber zu bereden, er werde ein kaͤlterer Freund. Die Veſperturnire um Klotilde, dieſe Diſputationen pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer kraͤnkte er ſich mit der Selbſtrezenſion, daß er zu¬ weilen ſeinem Freunde kleine Opfer abgeſchlagen, z. B. ſeinetwegen Verſaͤumung einer Luſtpartie, das Wegbleiben aus gewiſſen Regierungsraths-Haͤuſern, die Flamin haßte. Aber in der Freundſchaft ſind große Opfer leichter als kleine — man opfert ihr lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das

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Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/89>, abgerufen am 24.11.2024.