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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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Geschmack, den das junge Genie immer antastet
und das bejahrte meistens bekennt, muß von Mes¬
se zu Messe durch die Uebung an allem Schönen,
bei Individuen empfindlicher und schärfer werden:
die Völker selber aber verlieren sich jedes Jahrhun¬
dert weiter von den Grazien weg, die sich wie die
homerischen Götter, in Wolken verstecken. Die
Alten konnten mithin die natürliche Simplizität
ihrer Produkte so wenig empfinden als das Kind
oder der Wilde die der seinigen. Die reinen einfa¬
chen Sitten und Wendungen eines Aelplers oder
Tyrolers bewundert weder der eigne Besitzer noch
sein Landsmann, sondern der gebildete Hof, der
sie nicht erreichen kann! und wenn die römischen
Großen sich am Spielen nackter Kinder labten,
mit denen sie ihre Zimmer putzten: so hatten die
Großen, aber nicht die Kinder, die Labung und
den Geschmack. Die Alten schrieben also mit einem
unwillkührlichen Geschmack, ohne damit zu lesen
-- wie die jezigen genievollen Autoren, z. B. Ha¬
mann, mit weit mehr Geschmack lesen als schrei¬
ben -- daher jene Speckgeschwülste und Hitzblat¬
tern an den sonst gesunden Kindern eines Plato,
Aeschylus, Cicero; daher beklatschten die Athener

Geſchmack, den das junge Genie immer antaſtet
und das bejahrte meiſtens bekennt, muß von Meſ¬
ſe zu Meſſe durch die Uebung an allem Schoͤnen,
bei Individuen empfindlicher und ſchaͤrfer werden:
die Voͤlker ſelber aber verlieren ſich jedes Jahrhun¬
dert weiter von den Grazien weg, die ſich wie die
homeriſchen Goͤtter, in Wolken verſtecken. Die
Alten konnten mithin die natuͤrliche Simplizitaͤt
ihrer Produkte ſo wenig empfinden als das Kind
oder der Wilde die der ſeinigen. Die reinen einfa¬
chen Sitten und Wendungen eines Aelplers oder
Tyrolers bewundert weder der eigne Beſitzer noch
ſein Landsmann, ſondern der gebildete Hof, der
ſie nicht erreichen kann! und wenn die roͤmiſchen
Großen ſich am Spielen nackter Kinder labten,
mit denen ſie ihre Zimmer putzten: ſo hatten die
Großen, aber nicht die Kinder, die Labung und
den Geſchmack. Die Alten ſchrieben alſo mit einem
unwillkuͤhrlichen Geſchmack, ohne damit zu leſen
— wie die jezigen genievollen Autoren, z. B. Ha¬
mann, mit weit mehr Geſchmack leſen als ſchrei¬
ben — daher jene Speckgeſchwuͤlſte und Hitzblat¬
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Aeſchylus, Cicero; daher beklatſchten die Athener

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[194/0230] Geſchmack, den das junge Genie immer antaſtet und das bejahrte meiſtens bekennt, muß von Meſ¬ ſe zu Meſſe durch die Uebung an allem Schoͤnen, bei Individuen empfindlicher und ſchaͤrfer werden: die Voͤlker ſelber aber verlieren ſich jedes Jahrhun¬ dert weiter von den Grazien weg, die ſich wie die homeriſchen Goͤtter, in Wolken verſtecken. Die Alten konnten mithin die natuͤrliche Simplizitaͤt ihrer Produkte ſo wenig empfinden als das Kind oder der Wilde die der ſeinigen. Die reinen einfa¬ chen Sitten und Wendungen eines Aelplers oder Tyrolers bewundert weder der eigne Beſitzer noch ſein Landsmann, ſondern der gebildete Hof, der ſie nicht erreichen kann! und wenn die roͤmiſchen Großen ſich am Spielen nackter Kinder labten, mit denen ſie ihre Zimmer putzten: ſo hatten die Großen, aber nicht die Kinder, die Labung und den Geſchmack. Die Alten ſchrieben alſo mit einem unwillkuͤhrlichen Geſchmack, ohne damit zu leſen — wie die jezigen genievollen Autoren, z. B. Ha¬ mann, mit weit mehr Geſchmack leſen als ſchrei¬ ben — daher jene Speckgeſchwuͤlſte und Hitzblat¬ tern an den ſonſt geſunden Kindern eines Plato, Aeſchylus, Cicero; daher beklatſchten die Athener

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/230>, abgerufen am 18.12.2024.