Nächte, voll umhergeworfener Glieder zerstück¬ ter Riesengebürge, da wäre er gern durch den schönen Himmel hingeflogen! -- Endlich löste sich das Freuen und das Träumen und das Scheiden in jene unnennbare Wehmuth auf, worein das Übermaaß der Wonne den Schmerz der Gränzen kleidet, weil ja unsere Brust leich¬ ter zu überfüllen als zu füllen ist. -- --
Auf einmal wurde Albano gerührt und er¬ griffen, als wenn die Gottheit der Liebe ein Erdbeben in seinen innern Tempel schickte, um ihn für ihre künftige Erscheinung einzuweihen, da er an einem indischen Bäumchen neben sich den Zettel mit dessen Namen Liane las. Er sah es zärtlich an und sagte immer: liebe Lia¬ ne! Er wollte sich einen Zweig abbrechen; da er aber daran dachte, daß dann Wasser aus ihm rinne, so sagte er: "nein, Liane, durch mich sollst du nicht weinen" und unterließ es, weil in seiner Erinnerung das Gewächs auf irgend eine Art mit einem unbekannten theuern We¬ sen in Verwandtschaft stand. Sich unaussprech¬ lich-hinübersehnend blickte er jetzt nach den Tempelthoren Deutschlands, nach den Alpen --
Nächte, voll umhergeworfener Glieder zerſtück¬ ter Rieſengebürge, da wäre er gern durch den ſchönen Himmel hingeflogen! — Endlich löſte ſich das Freuen und das Träumen und das Scheiden in jene unnennbare Wehmuth auf, worein das Übermaaß der Wonne den Schmerz der Gränzen kleidet, weil ja unſere Bruſt leich¬ ter zu überfüllen als zu füllen iſt. — —
Auf einmal wurde Albano gerührt und er¬ griffen, als wenn die Gottheit der Liebe ein Erdbeben in ſeinen innern Tempel ſchickte, um ihn für ihre künftige Erſcheinung einzuweihen, da er an einem indiſchen Bäumchen neben ſich den Zettel mit deſſen Namen Liane las. Er ſah es zärtlich an und ſagte immer: liebe Lia¬ ne! Er wollte ſich einen Zweig abbrechen; da er aber daran dachte, daß dann Waſſer aus ihm rinne, ſo ſagte er: „nein, Liane, durch mich ſollſt du nicht weinen“ und unterließ es, weil in ſeiner Erinnerung das Gewächs auf irgend eine Art mit einem unbekannten theuern We¬ ſen in Verwandtſchaft ſtand. Sich unausſprech¬ lich-hinüberſehnend blickte er jetzt nach den Tempelthoren Deutſchlands, nach den Alpen —
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Nächte, voll umhergeworfener Glieder zerſtück¬
ter Rieſengebürge, da wäre er gern durch den
ſchönen Himmel hingeflogen! — Endlich löſte
ſich das Freuen und das Träumen und das
Scheiden in jene unnennbare Wehmuth auf,
worein das Übermaaß der Wonne den Schmerz
der Gränzen kleidet, weil ja unſere Bruſt leich¬
ter zu überfüllen als zu füllen iſt. — —
Auf einmal wurde Albano gerührt und er¬
griffen, als wenn die Gottheit der Liebe ein
Erdbeben in ſeinen innern Tempel ſchickte, um
ihn für ihre künftige Erſcheinung einzuweihen,
da er an einem indiſchen Bäumchen neben ſich
den Zettel mit deſſen Namen Liane las. Er
ſah es zärtlich an und ſagte immer: liebe Lia¬
ne! Er wollte ſich einen Zweig abbrechen; da
er aber daran dachte, daß dann Waſſer aus
ihm rinne, ſo ſagte er: „nein, Liane, durch mich
ſollſt du nicht weinen“ und unterließ es, weil
in ſeiner Erinnerung das Gewächs auf irgend
eine Art mit einem unbekannten theuern We¬
ſen in Verwandtſchaft ſtand. Sich unausſprech¬
lich-hinüberſehnend blickte er jetzt nach den
Tempelthoren Deutſchlands, nach den Alpen —
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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/111>, abgerufen am 18.12.2024.
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