Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

Tage unvergänglich, die jedes andere verges¬
sen hätte; so gieng dieser nie aus Albano's
seinem. Zuweilen wird ein kindlicher Tag auf
einmal durch ein helleres Aufblicken des Be¬
wußtseyns verewigt; in Kindern, zumal sol¬
chen wie Zesara ist, dreht sich das geistige
Auge weit früher und schärfer nach der Welt
innerhalb der Brust als sie zeigen und wir
denken.

Jetzt schlugs Ein Uhr im Schloßthurme.
Der geliebte nahe Ton, der ihn an seine nahe
Pflegemutter -- und an das versagte Essen erin¬
nerte -- und der Anblick der kleinen Blinden,
die schon ihren Holzzweig vom Brodbaum oder
ihr dürres Rennthiermoos in Händen hatte --
und der Gedanke, daß doch heute der Ge¬
burtstag des Pflegevaters sey -- und die un¬
sägliche Liebe für seine gekränkte Mutter, der
er oft plötzlich einsam an den Hals fiel --
und sein von der Natur bethauetes Herz mach¬
ten, daß er zu weinen anfieng. Aber der
Trotzkopf gieng darum nicht nach Hause; nur die
Aelplerinn war ungeheißen fortgelaufen, um der
suchenden Mutter den Flüchtling zu verrathen.

Tage unvergänglich, die jedes andere verges¬
ſen hätte; ſo gieng dieſer nie aus Albano's
ſeinem. Zuweilen wird ein kindlicher Tag auf
einmal durch ein helleres Aufblicken des Be¬
wußtſeyns verewigt; in Kindern, zumal ſol¬
chen wie Zeſara iſt, dreht ſich das geiſtige
Auge weit früher und ſchärfer nach der Welt
innerhalb der Bruſt als ſie zeigen und wir
denken.

Jetzt ſchlugs Ein Uhr im Schloßthurme.
Der geliebte nahe Ton, der ihn an ſeine nahe
Pflegemutter — und an das verſagte Eſſen erin¬
nerte — und der Anblick der kleinen Blinden,
die ſchon ihren Holzzweig vom Brodbaum oder
ihr dürres Rennthiermoos in Händen hatte —
und der Gedanke, daß doch heute der Ge¬
burtstag des Pflegevaters ſey — und die un¬
ſägliche Liebe für ſeine gekränkte Mutter, der
er oft plötzlich einſam an den Hals fiel —
und ſein von der Natur bethauetes Herz mach¬
ten, daß er zu weinen anfieng. Aber der
Trotzkopf gieng darum nicht nach Hauſe; nur die
Aelplerinn war ungeheißen fortgelaufen, um der
ſuchenden Mutter den Flüchtling zu verrathen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0160" n="140"/>
Tage unvergänglich, die jedes andere verges¬<lb/>
&#x017F;en hätte; &#x017F;o gieng die&#x017F;er nie aus Albano's<lb/>
&#x017F;einem. Zuweilen wird ein kindlicher Tag auf<lb/>
einmal durch ein helleres Aufblicken des Be¬<lb/>
wußt&#x017F;eyns verewigt; in Kindern, zumal &#x017F;ol¬<lb/>
chen wie Ze&#x017F;ara i&#x017F;t, dreht &#x017F;ich das gei&#x017F;tige<lb/>
Auge weit früher und &#x017F;chärfer nach der Welt<lb/>
innerhalb der Bru&#x017F;t als &#x017F;ie zeigen und wir<lb/>
denken.</p><lb/>
          <p>Jetzt &#x017F;chlugs Ein Uhr im Schloßthurme.<lb/>
Der geliebte nahe Ton, der ihn an &#x017F;eine nahe<lb/>
Pflegemutter &#x2014; und an das ver&#x017F;agte E&#x017F;&#x017F;en erin¬<lb/>
nerte &#x2014; und der Anblick der kleinen Blinden,<lb/>
die &#x017F;chon ihren Holzzweig vom Brodbaum oder<lb/>
ihr dürres Rennthiermoos in Händen hatte &#x2014;<lb/>
und der Gedanke, daß doch heute der Ge¬<lb/>
burtstag des Pflegevaters &#x017F;ey &#x2014; und die un¬<lb/>
&#x017F;ägliche Liebe für &#x017F;eine gekränkte Mutter, der<lb/>
er oft plötzlich ein&#x017F;am an den Hals fiel &#x2014;<lb/>
und &#x017F;ein von der Natur bethauetes Herz mach¬<lb/>
ten, daß er zu weinen anfieng. Aber der<lb/>
Trotzkopf gieng darum nicht nach Hau&#x017F;e; nur die<lb/>
Aelplerinn war ungeheißen fortgelaufen, um der<lb/>
&#x017F;uchenden Mutter den Flüchtling zu verrathen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0160] Tage unvergänglich, die jedes andere verges¬ ſen hätte; ſo gieng dieſer nie aus Albano's ſeinem. Zuweilen wird ein kindlicher Tag auf einmal durch ein helleres Aufblicken des Be¬ wußtſeyns verewigt; in Kindern, zumal ſol¬ chen wie Zeſara iſt, dreht ſich das geiſtige Auge weit früher und ſchärfer nach der Welt innerhalb der Bruſt als ſie zeigen und wir denken. Jetzt ſchlugs Ein Uhr im Schloßthurme. Der geliebte nahe Ton, der ihn an ſeine nahe Pflegemutter — und an das verſagte Eſſen erin¬ nerte — und der Anblick der kleinen Blinden, die ſchon ihren Holzzweig vom Brodbaum oder ihr dürres Rennthiermoos in Händen hatte — und der Gedanke, daß doch heute der Ge¬ burtstag des Pflegevaters ſey — und die un¬ ſägliche Liebe für ſeine gekränkte Mutter, der er oft plötzlich einſam an den Hals fiel — und ſein von der Natur bethauetes Herz mach¬ ten, daß er zu weinen anfieng. Aber der Trotzkopf gieng darum nicht nach Hauſe; nur die Aelplerinn war ungeheißen fortgelaufen, um der ſuchenden Mutter den Flüchtling zu verrathen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/160
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/160>, abgerufen am 23.11.2024.