Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

Bild:
<< vorherige Seite
ppe_250.001
VIERTER HAUPTTEIL
ppe_250.002
DEUTUNG UND WERTUNG
ppe_250.003

Das Werk selbst ist kein Ende, sondern eine Mitte: ppe_250.004
es kann als Schlußstein in einem Bogen, der von Seele ppe_250.005
zu Seele geht, als Gerät des Lebens begriffen werden. ppe_250.006
Das Werk hat durch die opferhafte Selbstentäußerung ppe_250.007
des schaffenden Geistes etwas erhalten, was ein Gegenstand ppe_250.008
von sich aus nie hat: nämlich Sinn, eigene Bündigkeit; ppe_250.009
es ist geistgeladene Materie geworden. Und ppe_250.010
hier setzt nun die Tatsache des Verstehens ein, nimmt ppe_250.011
von der anderen Seite das Werk gleichsam in Empfang ppe_250.012
und läßt sich von ihm zu den Höhen und Tiefen seines ppe_250.013
Sinngehalts führen.

ppe_250.014

Hans Freyer.

ppe_250.015
1. Das Verstehen

ppe_250.016
Die philologische Methodenlehre, die sich in einer Stufenfolge von ppe_250.017
sprachlicher und sachlicher Interpretation, von niederer und höherer ppe_250.018
Kritik des Textes wie von niederer und höherer Hermeneutik aufbaut, ppe_250.019
gelangt nach Untersuchung aller Fragen des Sprachstandes und Wortschatzes, ppe_250.020
der usuellen und occasionellen Wortbedeutung, der Sinngebung ppe_250.021
im Einzelnen und der Formgebung im Großen mit ihrer höchsten ppe_250.022
Zielsetzung kaum über die im vorigen Hauptteil behandelten ppe_250.023
Aufgaben der Analyse hinaus. Übrig bleibt das, was Goethe zum Ziel ppe_250.024
setzt, nämlich "das Innere, Eigentliche einer Schrift zu erforschen ppe_250.025
und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen ppe_250.026
Innern verhalte und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige ppe_250.027
erregt und befruchtet werde". Alles andere, die Quellen- und Gattungsbestimmung, ppe_250.028
die Erschließung des biographischen Anlasses und ppe_250.029
persönlichen Gehaltes, der Erlebnisse, des Planes, der Absicht, der ppe_250.030
Motive und Probleme kann zu einer Feststellung und Handhabung ppe_250.031
der Elemente führen, ohne daß das geistige Band erfaßt wird, das ppe_250.032
alles zusammenschließt und uns mit seiner Wirkung in Bann zieht. ppe_250.033
In seiner Handhabung liegt das eigentliche "Verstehen", das man im ppe_250.034
Anklang an Goethes Wort als ein "Erkennen von innen" bezeichnet hat.

ppe_250.035
Die Methodenlehre des Sprachforschers Hermann Paul wollte mit ppe_250.036
psychologischem Mechanismus dieses geistige Band als eine seelische ppe_250.037
Gleichstellung von Verfasser und Leser erkennen. Das "Verstehen"

ppe_250.001
VIERTER HAUPTTEIL
ppe_250.002
DEUTUNG UND WERTUNG
ppe_250.003

Das Werk selbst ist kein Ende, sondern eine Mitte: ppe_250.004
es kann als Schlußstein in einem Bogen, der von Seele ppe_250.005
zu Seele geht, als Gerät des Lebens begriffen werden. ppe_250.006
Das Werk hat durch die opferhafte Selbstentäußerung ppe_250.007
des schaffenden Geistes etwas erhalten, was ein Gegenstand ppe_250.008
von sich aus nie hat: nämlich Sinn, eigene Bündigkeit; ppe_250.009
es ist geistgeladene Materie geworden. Und ppe_250.010
hier setzt nun die Tatsache des Verstehens ein, nimmt ppe_250.011
von der anderen Seite das Werk gleichsam in Empfang ppe_250.012
und läßt sich von ihm zu den Höhen und Tiefen seines ppe_250.013
Sinngehalts führen.

ppe_250.014

Hans Freyer.

ppe_250.015
1. Das Verstehen

ppe_250.016
Die philologische Methodenlehre, die sich in einer Stufenfolge von ppe_250.017
sprachlicher und sachlicher Interpretation, von niederer und höherer ppe_250.018
Kritik des Textes wie von niederer und höherer Hermeneutik aufbaut, ppe_250.019
gelangt nach Untersuchung aller Fragen des Sprachstandes und Wortschatzes, ppe_250.020
der usuellen und occasionellen Wortbedeutung, der Sinngebung ppe_250.021
im Einzelnen und der Formgebung im Großen mit ihrer höchsten ppe_250.022
Zielsetzung kaum über die im vorigen Hauptteil behandelten ppe_250.023
Aufgaben der Analyse hinaus. Übrig bleibt das, was Goethe zum Ziel ppe_250.024
setzt, nämlich „das Innere, Eigentliche einer Schrift zu erforschen ppe_250.025
und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen ppe_250.026
Innern verhalte und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige ppe_250.027
erregt und befruchtet werde“. Alles andere, die Quellen- und Gattungsbestimmung, ppe_250.028
die Erschließung des biographischen Anlasses und ppe_250.029
persönlichen Gehaltes, der Erlebnisse, des Planes, der Absicht, der ppe_250.030
Motive und Probleme kann zu einer Feststellung und Handhabung ppe_250.031
der Elemente führen, ohne daß das geistige Band erfaßt wird, das ppe_250.032
alles zusammenschließt und uns mit seiner Wirkung in Bann zieht. ppe_250.033
In seiner Handhabung liegt das eigentliche „Verstehen“, das man im ppe_250.034
Anklang an Goethes Wort als ein „Erkennen von innen“ bezeichnet hat.

ppe_250.035
Die Methodenlehre des Sprachforschers Hermann Paul wollte mit ppe_250.036
psychologischem Mechanismus dieses geistige Band als eine seelische ppe_250.037
Gleichstellung von Verfasser und Leser erkennen. Das „Verstehen“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0274" n="E250"/>
        </div>
        <div n="2">
          <lb n="ppe_250.001"/>
          <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">VIERTER HAUPTTEIL</hi> </hi> </head>
          <lb n="ppe_250.002"/>
          <head> <hi rendition="#c">DEUTUNG UND WERTUNG</hi> </head>
          <lb n="ppe_250.003"/>
          <p> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#aq">Das Werk selbst ist kein Ende, sondern eine Mitte: <lb n="ppe_250.004"/>
es kann als Schlußstein in einem Bogen, der von Seele <lb n="ppe_250.005"/>
zu Seele geht, als Gerät des Lebens begriffen werden. <lb n="ppe_250.006"/>
Das Werk hat durch die opferhafte Selbstentäußerung <lb n="ppe_250.007"/>
des schaffenden Geistes etwas erhalten, was ein Gegenstand <lb n="ppe_250.008"/>
von sich aus nie hat: nämlich Sinn, eigene Bündigkeit; <lb n="ppe_250.009"/>
es ist geistgeladene Materie geworden. Und <lb n="ppe_250.010"/>
hier setzt nun die Tatsache des Verstehens ein, nimmt <lb n="ppe_250.011"/>
von der anderen Seite das Werk gleichsam in Empfang <lb n="ppe_250.012"/>
und läßt sich von ihm zu den Höhen und Tiefen seines <lb n="ppe_250.013"/>
Sinngehalts führen.</hi> </hi> </p>
          <lb n="ppe_250.014"/>
          <p> <hi rendition="#right"> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#g">Hans Freyer.</hi> </hi> </hi> </p>
          <lb n="ppe_250.015"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#c">1. <hi rendition="#g">Das Verstehen</hi></hi> </head>
            <p><lb n="ppe_250.016"/>
Die philologische Methodenlehre, die sich in einer Stufenfolge von <lb n="ppe_250.017"/>
sprachlicher und sachlicher Interpretation, von niederer und höherer <lb n="ppe_250.018"/>
Kritik des Textes wie von niederer und höherer Hermeneutik aufbaut, <lb n="ppe_250.019"/>
gelangt nach Untersuchung aller Fragen des Sprachstandes und Wortschatzes, <lb n="ppe_250.020"/>
der usuellen und occasionellen Wortbedeutung, der Sinngebung <lb n="ppe_250.021"/>
im Einzelnen und der Formgebung im Großen mit ihrer höchsten <lb n="ppe_250.022"/>
Zielsetzung kaum über die im vorigen Hauptteil behandelten <lb n="ppe_250.023"/>
Aufgaben der Analyse hinaus. Übrig bleibt das, was Goethe zum Ziel <lb n="ppe_250.024"/>
setzt, nämlich &#x201E;das Innere, Eigentliche einer Schrift zu erforschen <lb n="ppe_250.025"/>
und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen <lb n="ppe_250.026"/>
Innern verhalte und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige <lb n="ppe_250.027"/>
erregt und befruchtet werde&#x201C;. Alles andere, die Quellen- und Gattungsbestimmung, <lb n="ppe_250.028"/>
die Erschließung des biographischen Anlasses und <lb n="ppe_250.029"/>
persönlichen Gehaltes, der Erlebnisse, des Planes, der Absicht, der <lb n="ppe_250.030"/>
Motive und Probleme kann zu einer Feststellung und Handhabung <lb n="ppe_250.031"/>
der Elemente führen, ohne daß das geistige Band erfaßt wird, das <lb n="ppe_250.032"/>
alles zusammenschließt und uns mit seiner Wirkung in Bann zieht. <lb n="ppe_250.033"/>
In seiner Handhabung liegt das eigentliche &#x201E;Verstehen&#x201C;, das man im <lb n="ppe_250.034"/>
Anklang an Goethes Wort als ein &#x201E;Erkennen von innen&#x201C; bezeichnet hat.</p>
            <p><lb n="ppe_250.035"/>
Die Methodenlehre des Sprachforschers Hermann Paul wollte mit <lb n="ppe_250.036"/>
psychologischem Mechanismus dieses geistige Band als eine seelische <lb n="ppe_250.037"/>
Gleichstellung von Verfasser und Leser erkennen. Das &#x201E;Verstehen&#x201C;
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[E250/0274] ppe_250.001 VIERTER HAUPTTEIL ppe_250.002 DEUTUNG UND WERTUNG ppe_250.003 Das Werk selbst ist kein Ende, sondern eine Mitte: ppe_250.004 es kann als Schlußstein in einem Bogen, der von Seele ppe_250.005 zu Seele geht, als Gerät des Lebens begriffen werden. ppe_250.006 Das Werk hat durch die opferhafte Selbstentäußerung ppe_250.007 des schaffenden Geistes etwas erhalten, was ein Gegenstand ppe_250.008 von sich aus nie hat: nämlich Sinn, eigene Bündigkeit; ppe_250.009 es ist geistgeladene Materie geworden. Und ppe_250.010 hier setzt nun die Tatsache des Verstehens ein, nimmt ppe_250.011 von der anderen Seite das Werk gleichsam in Empfang ppe_250.012 und läßt sich von ihm zu den Höhen und Tiefen seines ppe_250.013 Sinngehalts führen. ppe_250.014 Hans Freyer. ppe_250.015 1. Das Verstehen ppe_250.016 Die philologische Methodenlehre, die sich in einer Stufenfolge von ppe_250.017 sprachlicher und sachlicher Interpretation, von niederer und höherer ppe_250.018 Kritik des Textes wie von niederer und höherer Hermeneutik aufbaut, ppe_250.019 gelangt nach Untersuchung aller Fragen des Sprachstandes und Wortschatzes, ppe_250.020 der usuellen und occasionellen Wortbedeutung, der Sinngebung ppe_250.021 im Einzelnen und der Formgebung im Großen mit ihrer höchsten ppe_250.022 Zielsetzung kaum über die im vorigen Hauptteil behandelten ppe_250.023 Aufgaben der Analyse hinaus. Übrig bleibt das, was Goethe zum Ziel ppe_250.024 setzt, nämlich „das Innere, Eigentliche einer Schrift zu erforschen ppe_250.025 und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen ppe_250.026 Innern verhalte und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige ppe_250.027 erregt und befruchtet werde“. Alles andere, die Quellen- und Gattungsbestimmung, ppe_250.028 die Erschließung des biographischen Anlasses und ppe_250.029 persönlichen Gehaltes, der Erlebnisse, des Planes, der Absicht, der ppe_250.030 Motive und Probleme kann zu einer Feststellung und Handhabung ppe_250.031 der Elemente führen, ohne daß das geistige Band erfaßt wird, das ppe_250.032 alles zusammenschließt und uns mit seiner Wirkung in Bann zieht. ppe_250.033 In seiner Handhabung liegt das eigentliche „Verstehen“, das man im ppe_250.034 Anklang an Goethes Wort als ein „Erkennen von innen“ bezeichnet hat. ppe_250.035 Die Methodenlehre des Sprachforschers Hermann Paul wollte mit ppe_250.036 psychologischem Mechanismus dieses geistige Band als eine seelische ppe_250.037 Gleichstellung von Verfasser und Leser erkennen. Das „Verstehen“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/274
Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. E250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/274>, abgerufen am 25.11.2024.