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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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Man müßte in die Besonderheiten des Gefühlslebens und der Vorstellungswelt, ppe_253.002
die jedes einzelne Werk mit seinem Zeitalter gemein ppe_253.003
hat, eindringen können; man müßte, um zeitlich bedingte Schöpfungen ppe_253.004
zu verstehen, sich dem Typus des Schöpfers und des Empfängers ppe_253.005
innerlich angleichen. Voraussetzung für ein bewußtes Einleben wäre ppe_253.006
die Erkenntnis des Typus. Aber, was für die Wesensbestimmung des ppe_253.007
mittelalterlichen, des gotischen, des Renaissancemenschen oder des ppe_253.008
sentimentalen Menschen zutage gefördert worden ist (Hoffmann, Worringer, ppe_253.009
Scheffler, Wieser) besteht in Konstruktionen, die meist nur ppe_253.010
aus einem Ausschnitt des Ganzen, aus einem bestimmten Ausdrucksgebiet, ppe_253.011
sei es Dichtung, Kunst, Philosophie oder religiöses Leben, ppe_253.012
abstrahiert sind und schon deshalb einseitig sein müssen. Bestenfalls ppe_253.013
stellen solche Erkenntnisse ein Brillenglas her, das den Blick schärft, ppe_253.014
aber ohne eigenes Augenlicht unnütz ist.

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Was soeben von den mittelalterlichen Christusdichtungen gesagt ppe_253.016
wurde, gilt nicht minder, wenn auch unter anderen Zeitumständen, ppe_253.017
von der einzigartigen Wirkung des Klopstockschen "Messias", die auf ppe_253.018
einer durch pietistisches Gefühlsleben erweichten Seelenhaltung des ppe_253.019
Menschen der Aufklärungszeit gegründet war. Man kann sich in die ppe_253.020
Empfindsamkeit mittels aller religions- und kulturgeschichtlichen ppe_253.021
Quellen einzuleben suchen, aber man wird durch dieses Zeitverstehen ppe_253.022
dennoch zu einem anderen Erlebnis der Dichtung gelangen, als es das ppe_253.023
der Zeitgenossen war. Eine Probe sind die verschiedenen erfolgreichen ppe_253.024
Versuche, für den "Messias" in Vortragsveranstaltungen unserer Zeit ppe_253.025
eine neue Gemeinde zu werben; die Auswahl der Partien, in denen ppe_253.026
das Machtwort der Dichtung heute zum ergreifenden Klang wird, ist ppe_253.027
ganz verschieden von der, die den stillen Leser des 18. Jahrhunderts ppe_253.028
mit tiefsten Eindrücken erschütterte.

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Wie hier die einstige Wirkung und die heutige sich in notwendigem ppe_253.030
Gegensatz befinden, so sind auch heutiges und einstiges Verstehen ppe_253.031
nicht zu vollständigem Einklang zu bringen. Die Assoziationsfähigkeit ppe_253.032
des Interpreten bleibt an sein persönliches Erleben gebunden, so daß ppe_253.033
sein eigenes Verstehen wie das, zu dem er andere anleitet, ebenso ppe_253.034
subjektiv sein muß als die ästhetische Würdigung, die nach jener ppe_253.035
Theorie Hermann Pauls nur als geschichtlich feststellbare Wirkung ppe_253.036
objektiv erfaßbar wäre. Eine Zusammenfassung aller geschichtlichen ppe_253.037
Urteile aber würde bestenfalls ein einstmaliges "Verstandenhaben" ppe_253.038
vermitteln, das uns großenteils fremd bleiben muß. Selbst wenn wir ppe_253.039
uns bemühen, diese Fremdheit in geschichtlichem Erfassen zu überwinden, ppe_253.040
so werden wir für unser eigenes unmittelbares Verstehen des ppe_253.041
Werkes kaum eine andere Förderung erfahren können, als daß wir

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Man müßte in die Besonderheiten des Gefühlslebens und der Vorstellungswelt, ppe_253.002
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Menschen der Aufklärungszeit gegründet war. Man kann sich in die ppe_253.020
Empfindsamkeit mittels aller religions- und kulturgeschichtlichen ppe_253.021
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Wie hier die einstige Wirkung und die heutige sich in notwendigem ppe_253.030
Gegensatz befinden, so sind auch heutiges und einstiges Verstehen ppe_253.031
nicht zu vollständigem Einklang zu bringen. Die Assoziationsfähigkeit ppe_253.032
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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/277>, abgerufen am 22.11.2024.