ppe_006.001 Gast des fremden Landes, der sein wesentliches Arbeitsmaterial dort ppe_006.002 findet, kann durch Einleben und Einfühlen in Kultur und Denkweise ppe_006.003 künstlich -- oder sollen wir sagen: auf wissenschaftliche Weise? -- ppe_006.004 sich einen Ersatz jenes liebevollen Heimatgefühls verschaffen, das ppe_006.005 natürliche Voraussetzung des Verstehens bildet. Der gleichwohl auferlegte ppe_006.006 Abstand befähigt wieder in mancher Beziehung zu einer umfassenderen ppe_006.007 Sicht. Aus der Ferne können Einheiten, Zusammenhänge ppe_006.008 und charakteristische Züge erkannt werden, die nationaler Befangenheit ppe_006.009 vielleicht verborgen bleiben. Das Verhältnis ist ungefähr das ppe_006.010 gleiche, wie das zwischen menschlichem Sichselbstverstehen und ppe_006.011 Fremdverstehen, wobei eines die Voraussetzung und den Maßstab ppe_006.012 des andern darstellt. Wie man fremde Sprachen nur von der ppe_006.013 Muttersprache aus lernen kann, so ist auch ein Eindringen in fremde ppe_006.014 Literaturen nur von der eigenen aus möglich. Beidemal aber ppe_006.015 schärft sich Gehör und Blick sowohl für das Fremde als für das ppe_006.016 Eigene. Entwickelt sich vom Boden der eigenen Kultur aus eine ppe_006.017 strengere Kritik am Fremden und umgekehrt von der fremden Kultur ppe_006.018 aus am Eigenen, so verdient das, selbst wenn es Mißverstehen ppe_006.019 bedeutet, auf der anderen Seite Beachtung, und wenn es zu richtigem ppe_006.020 Verstehen gelangt, bringt es um so höheren Gewinn. Das ppe_006.021 Bewußtsein, von anderer Seite verstanden zu werden, reizt und ppe_006.022 steigert die Selbsterkenntnis, so daß sich ein fördernder Ausgleich ppe_006.023 zwischen der fremden und der eigenen Beurteilung herzustellen ppe_006.024 vermag:
ppe_006.025
Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben; ppe_006.026 willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz.
ppe_006.027
Ein Beispiel solcher Wechselwirkung ist etwa Lessings Kritik an der ppe_006.028 französischen Tragödie, die nicht nur die Absicht erreichte, Deutschland ppe_006.029 von einer lähmenden Überschätzung zu befreien und zur Selbsterkenntnis ppe_006.030 zu bringen, sondern die auch in Frankreich für die folgenden ppe_006.031 Perioden starken Eindruck erzielte, etwa bis zu Victor Hugos ppe_006.032 "Preface de Cromwell" hin. Die Gegenkritik, die sich schließlich ppe_006.033 dort durchsetzte, hat dann wieder die deutsche Wissenschaft zu ppe_006.034 einem gerechten Verstehen der Formkunst, die aus dem französischen ppe_006.035 Geiste zu begreifen ist, führen können.
ppe_006.036 Es bleibt aber dabei, daß die maßgebende nationale Literaturgeschichte ppe_006.037 jedes Volkes, das eine große lebendige Literatur besitzt, ppe_006.038 nur in seiner eigenen Sprache geschrieben werden kann; sie weist der ppe_006.039 Wissenschaft sowohl für fremde Betrachtung der eigenen als für ppe_006.040 eigene Betrachtung der fremden Literaturen den Weg. Es ist indessen
ppe_006.001 Gast des fremden Landes, der sein wesentliches Arbeitsmaterial dort ppe_006.002 findet, kann durch Einleben und Einfühlen in Kultur und Denkweise ppe_006.003 künstlich — oder sollen wir sagen: auf wissenschaftliche Weise? — ppe_006.004 sich einen Ersatz jenes liebevollen Heimatgefühls verschaffen, das ppe_006.005 natürliche Voraussetzung des Verstehens bildet. Der gleichwohl auferlegte ppe_006.006 Abstand befähigt wieder in mancher Beziehung zu einer umfassenderen ppe_006.007 Sicht. Aus der Ferne können Einheiten, Zusammenhänge ppe_006.008 und charakteristische Züge erkannt werden, die nationaler Befangenheit ppe_006.009 vielleicht verborgen bleiben. Das Verhältnis ist ungefähr das ppe_006.010 gleiche, wie das zwischen menschlichem Sichselbstverstehen und ppe_006.011 Fremdverstehen, wobei eines die Voraussetzung und den Maßstab ppe_006.012 des andern darstellt. Wie man fremde Sprachen nur von der ppe_006.013 Muttersprache aus lernen kann, so ist auch ein Eindringen in fremde ppe_006.014 Literaturen nur von der eigenen aus möglich. Beidemal aber ppe_006.015 schärft sich Gehör und Blick sowohl für das Fremde als für das ppe_006.016 Eigene. Entwickelt sich vom Boden der eigenen Kultur aus eine ppe_006.017 strengere Kritik am Fremden und umgekehrt von der fremden Kultur ppe_006.018 aus am Eigenen, so verdient das, selbst wenn es Mißverstehen ppe_006.019 bedeutet, auf der anderen Seite Beachtung, und wenn es zu richtigem ppe_006.020 Verstehen gelangt, bringt es um so höheren Gewinn. Das ppe_006.021 Bewußtsein, von anderer Seite verstanden zu werden, reizt und ppe_006.022 steigert die Selbsterkenntnis, so daß sich ein fördernder Ausgleich ppe_006.023 zwischen der fremden und der eigenen Beurteilung herzustellen ppe_006.024 vermag:
ppe_006.025
Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben; ppe_006.026 willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz.
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Ein Beispiel solcher Wechselwirkung ist etwa Lessings Kritik an der ppe_006.028 französischen Tragödie, die nicht nur die Absicht erreichte, Deutschland ppe_006.029 von einer lähmenden Überschätzung zu befreien und zur Selbsterkenntnis ppe_006.030 zu bringen, sondern die auch in Frankreich für die folgenden ppe_006.031 Perioden starken Eindruck erzielte, etwa bis zu Victor Hugos ppe_006.032 „Préface de Cromwell“ hin. Die Gegenkritik, die sich schließlich ppe_006.033 dort durchsetzte, hat dann wieder die deutsche Wissenschaft zu ppe_006.034 einem gerechten Verstehen der Formkunst, die aus dem französischen ppe_006.035 Geiste zu begreifen ist, führen können.
ppe_006.036 Es bleibt aber dabei, daß die maßgebende nationale Literaturgeschichte ppe_006.037 jedes Volkes, das eine große lebendige Literatur besitzt, ppe_006.038 nur in seiner eigenen Sprache geschrieben werden kann; sie weist der ppe_006.039 Wissenschaft sowohl für fremde Betrachtung der eigenen als für ppe_006.040 eigene Betrachtung der fremden Literaturen den Weg. Es ist indessen
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Ein Beispiel solcher Wechselwirkung ist etwa Lessings Kritik an der ppe_006.028
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/30>, abgerufen am 21.11.2024.
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