Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.ppe_353.001 Und liegen wir im tiefen Schlaf befangen, ppe_353.005 So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht: ppe_353.006 Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen, ppe_353.007 Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern -- ppe_353.008 Sie aber schlafen wie die Austern dämmern. ppe_353.009 ppe_353.023 Alles geben die Götter, ppe_353.030 ppe_353.034die unendlichen, ppe_353.031 ihren Lieblingen ganz: ppe_353.032 Alle Freuden, die unendlichen, ppe_353.033 Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. Und wenn Mörikes schlichtes Gebet das Gegenteil sagt, indem es das ppe_353.035 Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden ppe_353.037 ppe_353.038Mich nicht überschütten, so ist auch dieses Ausweichen nichts anderes als ein Ausdruck empfindlicher ppe_353.039 ppe_353.001 Und liegen wir im tiefen Schlaf befangen, ppe_353.005 So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht: ppe_353.006 Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen, ppe_353.007 Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern — ppe_353.008 Sie aber schlafen wie die Austern dämmern. ppe_353.009 ppe_353.023 Alles geben die Götter, ppe_353.030 ppe_353.034die unendlichen, ppe_353.031 ihren Lieblingen ganz: ppe_353.032 Alle Freuden, die unendlichen, ppe_353.033 Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. Und wenn Mörikes schlichtes Gebet das Gegenteil sagt, indem es das ppe_353.035 Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden ppe_353.037 ppe_353.038Mich nicht überschütten, so ist auch dieses Ausweichen nichts anderes als ein Ausdruck empfindlicher ppe_353.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0377" n="353"/><lb n="ppe_353.001"/> erlebt habe, und nun erst wird ihm der Tod zum Erlebnis. Wirklich <lb n="ppe_353.002"/> erleben können nur die Künstler, denen Desiderio im „Tod des Tizian“ <lb n="ppe_353.003"/> die Alltagsmenschen gegenüberstellt:</p> <lb n="ppe_353.004"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq">Und liegen <hi rendition="#g">wir</hi> im tiefen Schlaf befangen, <lb n="ppe_353.005"/> So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht: <lb n="ppe_353.006"/> Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen, <lb n="ppe_353.007"/> Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern — <lb n="ppe_353.008"/> Sie aber schlafen wie die Austern dämmern.</hi> </l> </lg> <p><lb n="ppe_353.009"/> Das Verhältnis von Leben und Erleben beruht im Unterschied der <lb n="ppe_353.010"/> seelischen Anteilnahme, der Intensität und Dauer der Eindrücke und <lb n="ppe_353.011"/> ihrer gefühlsmäßigen Verinnerlichung. Erleben kommt zustande <lb n="ppe_353.012"/> durch künstlerische Auffassung des Lebens mittels der Einbildungskraft, <lb n="ppe_353.013"/> durch phantasievolles Weiterspinnen und vorahnendes Gestalten. <lb n="ppe_353.014"/> Dilthey hat es als ein Gesetz bezeichnet, unter dem der Dichter stehe, <lb n="ppe_353.015"/> daß nur die Mächtigkeit und der Reichtum seiner Erlebnisse das Material <lb n="ppe_353.016"/> echter Poesie gewähre. Das heißt: der wahre Künstler kann <lb n="ppe_353.017"/> nichts darstellen, was er nicht in seinem Inneren erlebt hat, und er <lb n="ppe_353.018"/> kann nichts erleben ohne Antrieb und Zwang zur Gestaltung. Jedes <lb n="ppe_353.019"/> Erlebnis muß Stoff werden, der nach Gestaltung drängt. Jeder Stoff <lb n="ppe_353.020"/> muß Erlebnis werden, um zur Gestaltung zu gelangen. Erlebnis ist <lb n="ppe_353.021"/> Besessenheit von einem Stoff und seinen Problemen; Gestaltung ist die <lb n="ppe_353.022"/> Befreiung vom quälenden Zwang des Erlebnisses.</p> <p><lb n="ppe_353.023"/> Voraussetzung ist die Erlebnisfähigkeit des Künstlerherzens, die <lb n="ppe_353.024"/> mehr bedeutet, als die Sinnesempfänglichkeit, von der im ersten Abschnitt <lb n="ppe_353.025"/> dieses Buches die Rede war (S. 338). Durch sein Gefühlsleben, <lb n="ppe_353.026"/> das ihn eigenes wie fremdes Leid, eigene wie fremde Freuden mit <lb n="ppe_353.027"/> voller Hingabe durchkosten läßt, ohne Genüge zu finden, wird der <lb n="ppe_353.028"/> Künstler nach Goethes Wort zum Liebling der Götter:</p> <lb n="ppe_353.029"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq">Alles geben die Götter, <lb n="ppe_353.030"/> die unendlichen, <lb n="ppe_353.031"/> ihren Lieblingen ganz: <lb n="ppe_353.032"/> Alle Freuden, die unendlichen, <lb n="ppe_353.033"/> Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.</hi> </l> </lg> <lb n="ppe_353.034"/> <p>Und wenn Mörikes schlichtes Gebet das Gegenteil sagt, indem es das <lb n="ppe_353.035"/> in der Mitte liegende holde Bescheiden für sich in Anspruch nimmt,</p> <lb n="ppe_353.036"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq">Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden <lb n="ppe_353.037"/> Mich nicht überschütten,</hi> </l> </lg> <lb n="ppe_353.038"/> <p>so ist auch dieses Ausweichen nichts anderes als ein Ausdruck empfindlicher <lb n="ppe_353.039"/> Erlebnisempfänglichkeit.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [353/0377]
ppe_353.001
erlebt habe, und nun erst wird ihm der Tod zum Erlebnis. Wirklich ppe_353.002
erleben können nur die Künstler, denen Desiderio im „Tod des Tizian“ ppe_353.003
die Alltagsmenschen gegenüberstellt:
ppe_353.004
Und liegen wir im tiefen Schlaf befangen, ppe_353.005
So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht: ppe_353.006
Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen, ppe_353.007
Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern — ppe_353.008
Sie aber schlafen wie die Austern dämmern.
ppe_353.009
Das Verhältnis von Leben und Erleben beruht im Unterschied der ppe_353.010
seelischen Anteilnahme, der Intensität und Dauer der Eindrücke und ppe_353.011
ihrer gefühlsmäßigen Verinnerlichung. Erleben kommt zustande ppe_353.012
durch künstlerische Auffassung des Lebens mittels der Einbildungskraft, ppe_353.013
durch phantasievolles Weiterspinnen und vorahnendes Gestalten. ppe_353.014
Dilthey hat es als ein Gesetz bezeichnet, unter dem der Dichter stehe, ppe_353.015
daß nur die Mächtigkeit und der Reichtum seiner Erlebnisse das Material ppe_353.016
echter Poesie gewähre. Das heißt: der wahre Künstler kann ppe_353.017
nichts darstellen, was er nicht in seinem Inneren erlebt hat, und er ppe_353.018
kann nichts erleben ohne Antrieb und Zwang zur Gestaltung. Jedes ppe_353.019
Erlebnis muß Stoff werden, der nach Gestaltung drängt. Jeder Stoff ppe_353.020
muß Erlebnis werden, um zur Gestaltung zu gelangen. Erlebnis ist ppe_353.021
Besessenheit von einem Stoff und seinen Problemen; Gestaltung ist die ppe_353.022
Befreiung vom quälenden Zwang des Erlebnisses.
ppe_353.023
Voraussetzung ist die Erlebnisfähigkeit des Künstlerherzens, die ppe_353.024
mehr bedeutet, als die Sinnesempfänglichkeit, von der im ersten Abschnitt ppe_353.025
dieses Buches die Rede war (S. 338). Durch sein Gefühlsleben, ppe_353.026
das ihn eigenes wie fremdes Leid, eigene wie fremde Freuden mit ppe_353.027
voller Hingabe durchkosten läßt, ohne Genüge zu finden, wird der ppe_353.028
Künstler nach Goethes Wort zum Liebling der Götter:
ppe_353.029
Alles geben die Götter, ppe_353.030
die unendlichen, ppe_353.031
ihren Lieblingen ganz: ppe_353.032
Alle Freuden, die unendlichen, ppe_353.033
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
ppe_353.034
Und wenn Mörikes schlichtes Gebet das Gegenteil sagt, indem es das ppe_353.035
in der Mitte liegende holde Bescheiden für sich in Anspruch nimmt,
ppe_353.036
Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden ppe_353.037
Mich nicht überschütten,
ppe_353.038
so ist auch dieses Ausweichen nichts anderes als ein Ausdruck empfindlicher ppe_353.039
Erlebnisempfänglichkeit.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |