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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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verdrängter infantiler Urerlebnisse, die bis in den Mutterleib zurückführen ppe_400.002
sollten. Die einseitige Verfolgung dieser Theorie hat eine verheerende ppe_400.003
Wirkung auf Mythenforschung und Herleitung dichterischer ppe_400.004
Motive ausgeübt in dem grauenhaften Buch von Otto Rank über das ppe_400.005
Inzest-Motiv in Dichtung und Sage; auch hat sie einen nicht minder ppe_400.006
verhängnisvollen Einbruch in die Psychologie des Dichters vollzogen, ppe_400.007
indem sie jeden Dichter als Neurotiker auffassen ließ und die ppe_400.008
Hysterie als Prinzip des Fortschrittes anpries.

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Der Wiener Nervenarzt Wilhelm Stekel hat sich in mehreren ppe_400.010
Büchern mit den Träumen der Dichter befaßt und es fertig gebracht, ppe_400.011
das Material, das in Aufzeichnungen Verstorbener wie in Mitteilungen ppe_400.012
Lebender von ihm gesammelt war, fast ausschließlich auf kriminelle ppe_400.013
und erotische Züge hin zu analysieren.

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Die Gleichsetzung von Dichter und Träumer, wonach jeder träumende ppe_400.015
Mensch als Dichter anzusehen sei, bewahrheitet sich dabei ppe_400.016
ebensowenig als die Annahme, daß die Dichterträume poetischer seien ppe_400.017
als die der anderen Menschen. Stellt man normale Traumerlebnisse ppe_400.018
daneben, so bestätigt sich vielmehr der Satz Wilhelm Raabes, "daß ppe_400.019
die Dummen und Armen im Geiste die allerwundervollsten und geistreichsten ppe_400.020
Träume haben können; ebenso geistreiche und sonderbare. ppe_400.021
als wie die Klugen, die Weisen sowohl am Tage wie bei Nacht".

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Das aber unterscheidet den Dichter von dem gewöhnlichen Träumer, ppe_400.023
daß er die Traumdeutung selbst vornimmt und alles, was dem ppe_400.024
gewöhnlichen Menschen zerfließt, festzuhalten, zu zügeln und zu bändigen ppe_400.025
versteht, daß er ihm Sinn und Gestalt gibt und sein unbewußtes ppe_400.026
Phantasieleben willensmäßig formt.

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Kein anderer Dichter hat so viel über das Verhältnis von Traum ppe_400.028
und Dichtung reflektiert als Hebbel. Bald verglich er die dichterische ppe_400.029
Begabung mit einem Traumzustand, der in der Seele des Dichters ppe_400.030
vorbereitet, was er selber nicht weiß; bald wieder sah er im künstlerischen ppe_400.031
Vermögen eine Mittelstufe zwischen dem Instinkt des Tiers, ppe_400.032
das nur ein Traumleben führt, und dem Bewußtsein des Menschen. ppe_400.033
In den Tagebüchern finden sich vielerlei weitere Abwandlungen dieses ppe_400.034
Gedankens: "Phantasie ist nur in Gesellschaft des Verstandes erträglich", ppe_400.035
... "Das Schöne entsteht, sobald die Phantasie Verstand ppe_400.036
bekommt", ... "In die dämmernde duftende Gefühlswelt des begeisterten ppe_400.037
Dichters fällt ein Mondenstrahl des Bewußtseins, und das, ppe_400.038
was er beleuchtet, wird Gestalt." In allen diesen Formulierungen ppe_400.039
kommt das gleiche Ergebnis der Selbstbeobachtung zum Ausdruck, ppe_400.040
daß der Traum an sich noch keine Dichtung ist.

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Mindestens ebensogut wie mit dem Seelenleben des Tieres hätte

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Der Wiener Nervenarzt Wilhelm Stekel hat sich in mehreren ppe_400.010
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Das aber unterscheidet den Dichter von dem gewöhnlichen Träumer, ppe_400.023
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Phantasieleben willensmäßig formt.

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[400/0424] ppe_400.001 verdrängter infantiler Urerlebnisse, die bis in den Mutterleib zurückführen ppe_400.002 sollten. Die einseitige Verfolgung dieser Theorie hat eine verheerende ppe_400.003 Wirkung auf Mythenforschung und Herleitung dichterischer ppe_400.004 Motive ausgeübt in dem grauenhaften Buch von Otto Rank über das ppe_400.005 Inzest-Motiv in Dichtung und Sage; auch hat sie einen nicht minder ppe_400.006 verhängnisvollen Einbruch in die Psychologie des Dichters vollzogen, ppe_400.007 indem sie jeden Dichter als Neurotiker auffassen ließ und die ppe_400.008 Hysterie als Prinzip des Fortschrittes anpries. ppe_400.009 Der Wiener Nervenarzt Wilhelm Stekel hat sich in mehreren ppe_400.010 Büchern mit den Träumen der Dichter befaßt und es fertig gebracht, ppe_400.011 das Material, das in Aufzeichnungen Verstorbener wie in Mitteilungen ppe_400.012 Lebender von ihm gesammelt war, fast ausschließlich auf kriminelle ppe_400.013 und erotische Züge hin zu analysieren. ppe_400.014 Die Gleichsetzung von Dichter und Träumer, wonach jeder träumende ppe_400.015 Mensch als Dichter anzusehen sei, bewahrheitet sich dabei ppe_400.016 ebensowenig als die Annahme, daß die Dichterträume poetischer seien ppe_400.017 als die der anderen Menschen. Stellt man normale Traumerlebnisse ppe_400.018 daneben, so bestätigt sich vielmehr der Satz Wilhelm Raabes, „daß ppe_400.019 die Dummen und Armen im Geiste die allerwundervollsten und geistreichsten ppe_400.020 Träume haben können; ebenso geistreiche und sonderbare. ppe_400.021 als wie die Klugen, die Weisen sowohl am Tage wie bei Nacht“. ppe_400.022 Das aber unterscheidet den Dichter von dem gewöhnlichen Träumer, ppe_400.023 daß er die Traumdeutung selbst vornimmt und alles, was dem ppe_400.024 gewöhnlichen Menschen zerfließt, festzuhalten, zu zügeln und zu bändigen ppe_400.025 versteht, daß er ihm Sinn und Gestalt gibt und sein unbewußtes ppe_400.026 Phantasieleben willensmäßig formt. ppe_400.027 Kein anderer Dichter hat so viel über das Verhältnis von Traum ppe_400.028 und Dichtung reflektiert als Hebbel. Bald verglich er die dichterische ppe_400.029 Begabung mit einem Traumzustand, der in der Seele des Dichters ppe_400.030 vorbereitet, was er selber nicht weiß; bald wieder sah er im künstlerischen ppe_400.031 Vermögen eine Mittelstufe zwischen dem Instinkt des Tiers, ppe_400.032 das nur ein Traumleben führt, und dem Bewußtsein des Menschen. ppe_400.033 In den Tagebüchern finden sich vielerlei weitere Abwandlungen dieses ppe_400.034 Gedankens: „Phantasie ist nur in Gesellschaft des Verstandes erträglich“, ppe_400.035 ... „Das Schöne entsteht, sobald die Phantasie Verstand ppe_400.036 bekommt“, ... „In die dämmernde duftende Gefühlswelt des begeisterten ppe_400.037 Dichters fällt ein Mondenstrahl des Bewußtseins, und das, ppe_400.038 was er beleuchtet, wird Gestalt.“ In allen diesen Formulierungen ppe_400.039 kommt das gleiche Ergebnis der Selbstbeobachtung zum Ausdruck, ppe_400.040 daß der Traum an sich noch keine Dichtung ist. ppe_400.041 Mindestens ebensogut wie mit dem Seelenleben des Tieres hätte

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/424>, abgerufen am 22.11.2024.