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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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daß jede Stammesanlage ebenso wie die Anlage jedes Dichters zu ppe_476.002
einer bestimmten Gattung neige und unveränderlich auf sie festgelegt ppe_476.003
sei, läßt sich nicht halten. Daß Grillparzer kein großer Lyriker werden ppe_476.004
konnte, liegt weniger in seinem Österreichertum begründet, wie ppe_476.005
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Minnesangs Frühling über Walther von der Vogelweide und Neithart ppe_476.007
von Reuenthal bis zu Rilke, Trakl und Weinheber ist der Gegenbeweis ppe_476.008
geführt gegen die Stigmatisierung einer auf das Dramatische ppe_476.009
beschränkten Stammesanlage des Österreichers. Es gibt überhaupt ppe_476.010
kein Volk ohne Lyrik, eher ein solches ohne Drama, wenn die religiösen ppe_476.011
Voraussetzungen für theatralische Kultformen fehlen und ppe_476.012
wenn das Schicksal nicht zu dieser Gattung drängt. Insbesondere ppe_476.013
setzt die Tragödie tragisches Volksschicksal voraus. Deshalb wechselt ppe_476.014
die Bedeutung der Gattung als Ausdruck nationalen Lebens. Niemals ppe_476.015
hätte das kleine niederländische Volk (auch wenn es Seneca zum Vorbild ppe_476.016
hatte) zur großen Tragödie der Vondel und Hooft gelangen ppe_476.017
können, wenn nicht der politische und religiöse Freiheitskrieg des ppe_476.018
vorausgehenden Jahrhunderts es erhoben hätte. Und wäre Norwegen ppe_476.019
zur tragischen Dichtung Ibsens und Björnsons einfach durch den Anschluß ppe_476.020
an gesamteuropäische Strömungen gelangt, wenn nicht ein ppe_476.021
leidenschaftlicher Drang nach Freiheit und Selbständigkeit durch das ppe_476.022
ganze Volk gegangen wäre?

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Andere Völker zeigen die umgekehrte Folge der Erscheinungen. ppe_476.024
Beim Überblick über die dramatische Produktion des Reformationszeitalters ppe_476.025
hätte man für die Schweiz zu derselben Folgerung, die ppe_476.026
fälschlich für Österreich angenommen wurde, nämlich der Verdrängung ppe_476.027
des Lyrischen durch das Dramatische gelangen können. ppe_476.028
Aber in unserer Zeit scheint diese Ader, die in den Reformationskämpfen ppe_476.029
pulsierte, dort versiegt, während dem alemannischen Stamm ppe_476.030
mit Pestalozzi, Gotthelf, Keller, Meyer, Spitteler, von den Lebenden ppe_476.031
nicht zu reden, die Gabe des lehrhaften Erzählens angeboren scheint, ppe_476.032
die sich im übrigen, wie an Keller und Meyer zu zeigen ist, mit der ppe_476.033
des Lyrikers durchaus verträgt.

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Die Zeit scheint für die Bevorzugung bestimmter Gattungen wichtiger ppe_476.035
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in der Lyrik, Perioden großer Erinnerung im Heldenepos, Spannungen ppe_476.037
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Perioden erwachenden Wirklichkeitssinnes im Roman ihren Ausdruck, ppe_476.039
und friedlose Zeiten wenden ihre Sehnsucht der Idylle zu. ppe_476.040
So geht durch jede Gattungsgeschichte ein schicksalsmäßiger Zug, ppe_476.041
und der Wechsel des Übergewichts kann sich innerhalb eines Raumes

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Andere Völker zeigen die umgekehrte Folge der Erscheinungen. ppe_476.024
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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/500>, abgerufen am 22.11.2024.