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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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Wenn Herder in scheinbarer Umkehr dieser Bewegungsrichtung die ppe_522.002
Dichtung aus dem Raum in die Zeit hatte wachsen lassen, so war es ppe_522.003
weder auf den vom Dichtwerk (als Buch oder Text einer Vorlesung ppe_522.004
oder Gegenstand einer Aufführung) für seine Verwirklichung beanspruchten ppe_522.005
bescheidenen Raum angekommen noch auf den Raum, der ppe_522.006
in ihm dargestellt war; ebenso wenig auf die zur Darstellung gebrachte ppe_522.007
oder für Wiedergabe und Aufnahme benötigte Zeit, sondern ppe_522.008
auf die Dauer der Wirkung.

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Die Herkunft aus dem Raum betraf bei Herder die sinnliche Erscheinungswelt ppe_522.010
der bildenden Kunst und ihres Vorbildes, der Natur, ppe_522.011
zu der auch der Mensch zu rechnen war. Den Natureindruck vermag ppe_522.012
mittelbar auch die Dichtung zu erreichen durch Einprägung in die ppe_522.013
Phantasievorstellung der Genießenden. Da baut sich die sichtbare ppe_522.014
Welt neu und prächtig auf. Dagegen konnte sich der Eintritt in die ppe_522.015
Zeit auf die nicht stillstehende Folge der stimmungweckenden und ppe_522.016
gefühlanregenden musikalischen Klänge beziehen, denen die einander ppe_522.017
ablösenden Bilder der Dichtersprache gleichen. Beides schließt sich ppe_522.018
erst im Nacheinander zu einem Ganzen zusammen, das Form gewinnt ppe_522.019
und nachklingt.

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Die Gesamtwirkung, die bei dem in sich ruhenden Werk der bildenden ppe_522.021
Kunst das erste ist, kommt bei den anderen Künsten trotz der ppe_522.022
unaufhörlichen Eindrücke jedes Augenblicks erst mit der Zeit zustande, ppe_522.023
aber sie läßt sich auch zu jeder Zeit wiederholen durch erneute ppe_522.024
Wiedergabe des Musikstückes und durch erneutes Eindringen ppe_522.025
in die Dichtung.

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Eine Steigerung des Eindrucks durch Wiederholung ist auch bei ppe_522.027
dem Werk der bildenden Kunst möglich, das erst mehrfacher Betrachtung ppe_522.028
sich voll erschließt; aber es gibt bei ihm kein da capo der ppe_522.029
Vorführung; es ist immer da und kann so, wie es da ist, nicht erneuert, ppe_522.030
sondern höchstens wiederhergestellt oder kopiert werden. Es ppe_522.031
stellt nicht nur Raum vor und braucht Raum zu seiner Darstellung, ppe_522.032
sondern es steht einmalig in seinem Raum und leistet in dieser bleibenden ppe_522.033
Einmaligkeit dem Drang der Zeit Widerstand. Während die ppe_522.034
Zeit jedes Werk der bildenden Kunst mit allmählicher Zerstörung ppe_522.035
bedroht, so daß menschliche Aufsicht darauf bedacht sein muß, es ppe_522.036
in seiner Einmaligkeit zu beschützen, haben bei Kompositionen der ppe_522.037
Musik und der Dichtkunst lediglich die ersten Niederschriften ihrer ppe_522.038
Schöpfer oder die ersten Drucke, wenn sie besonders selten sind, ppe_522.039
Denkmalswert. Weitere Kopien bedeuten für den sammelnden Liebhaber ppe_522.040
eine Entwertung. Aber Noten und Buchstaben verlieren durch ppe_522.041
getreue Vervielfältigung, die ihr Weiterleben sichert, nicht an Bedeutung

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Wenn Herder in scheinbarer Umkehr dieser Bewegungsrichtung die ppe_522.002
Dichtung aus dem Raum in die Zeit hatte wachsen lassen, so war es ppe_522.003
weder auf den vom Dichtwerk (als Buch oder Text einer Vorlesung ppe_522.004
oder Gegenstand einer Aufführung) für seine Verwirklichung beanspruchten ppe_522.005
bescheidenen Raum angekommen noch auf den Raum, der ppe_522.006
in ihm dargestellt war; ebenso wenig auf die zur Darstellung gebrachte ppe_522.007
oder für Wiedergabe und Aufnahme benötigte Zeit, sondern ppe_522.008
auf die Dauer der Wirkung.

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Die Herkunft aus dem Raum betraf bei Herder die sinnliche Erscheinungswelt ppe_522.010
der bildenden Kunst und ihres Vorbildes, der Natur, ppe_522.011
zu der auch der Mensch zu rechnen war. Den Natureindruck vermag ppe_522.012
mittelbar auch die Dichtung zu erreichen durch Einprägung in die ppe_522.013
Phantasievorstellung der Genießenden. Da baut sich die sichtbare ppe_522.014
Welt neu und prächtig auf. Dagegen konnte sich der Eintritt in die ppe_522.015
Zeit auf die nicht stillstehende Folge der stimmungweckenden und ppe_522.016
gefühlanregenden musikalischen Klänge beziehen, denen die einander ppe_522.017
ablösenden Bilder der Dichtersprache gleichen. Beides schließt sich ppe_522.018
erst im Nacheinander zu einem Ganzen zusammen, das Form gewinnt ppe_522.019
und nachklingt.

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Die Gesamtwirkung, die bei dem in sich ruhenden Werk der bildenden ppe_522.021
Kunst das erste ist, kommt bei den anderen Künsten trotz der ppe_522.022
unaufhörlichen Eindrücke jedes Augenblicks erst mit der Zeit zustande, ppe_522.023
aber sie läßt sich auch zu jeder Zeit wiederholen durch erneute ppe_522.024
Wiedergabe des Musikstückes und durch erneutes Eindringen ppe_522.025
in die Dichtung.

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Eine Steigerung des Eindrucks durch Wiederholung ist auch bei ppe_522.027
dem Werk der bildenden Kunst möglich, das erst mehrfacher Betrachtung ppe_522.028
sich voll erschließt; aber es gibt bei ihm kein da capo der ppe_522.029
Vorführung; es ist immer da und kann so, wie es da ist, nicht erneuert, ppe_522.030
sondern höchstens wiederhergestellt oder kopiert werden. Es ppe_522.031
stellt nicht nur Raum vor und braucht Raum zu seiner Darstellung, ppe_522.032
sondern es steht einmalig in seinem Raum und leistet in dieser bleibenden ppe_522.033
Einmaligkeit dem Drang der Zeit Widerstand. Während die ppe_522.034
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bedroht, so daß menschliche Aufsicht darauf bedacht sein muß, es ppe_522.036
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Musik und der Dichtkunst lediglich die ersten Niederschriften ihrer ppe_522.038
Schöpfer oder die ersten Drucke, wenn sie besonders selten sind, ppe_522.039
Denkmalswert. Weitere Kopien bedeuten für den sammelnden Liebhaber ppe_522.040
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[522/0546] ppe_522.001 Wenn Herder in scheinbarer Umkehr dieser Bewegungsrichtung die ppe_522.002 Dichtung aus dem Raum in die Zeit hatte wachsen lassen, so war es ppe_522.003 weder auf den vom Dichtwerk (als Buch oder Text einer Vorlesung ppe_522.004 oder Gegenstand einer Aufführung) für seine Verwirklichung beanspruchten ppe_522.005 bescheidenen Raum angekommen noch auf den Raum, der ppe_522.006 in ihm dargestellt war; ebenso wenig auf die zur Darstellung gebrachte ppe_522.007 oder für Wiedergabe und Aufnahme benötigte Zeit, sondern ppe_522.008 auf die Dauer der Wirkung. ppe_522.009 Die Herkunft aus dem Raum betraf bei Herder die sinnliche Erscheinungswelt ppe_522.010 der bildenden Kunst und ihres Vorbildes, der Natur, ppe_522.011 zu der auch der Mensch zu rechnen war. Den Natureindruck vermag ppe_522.012 mittelbar auch die Dichtung zu erreichen durch Einprägung in die ppe_522.013 Phantasievorstellung der Genießenden. Da baut sich die sichtbare ppe_522.014 Welt neu und prächtig auf. Dagegen konnte sich der Eintritt in die ppe_522.015 Zeit auf die nicht stillstehende Folge der stimmungweckenden und ppe_522.016 gefühlanregenden musikalischen Klänge beziehen, denen die einander ppe_522.017 ablösenden Bilder der Dichtersprache gleichen. Beides schließt sich ppe_522.018 erst im Nacheinander zu einem Ganzen zusammen, das Form gewinnt ppe_522.019 und nachklingt. ppe_522.020 Die Gesamtwirkung, die bei dem in sich ruhenden Werk der bildenden ppe_522.021 Kunst das erste ist, kommt bei den anderen Künsten trotz der ppe_522.022 unaufhörlichen Eindrücke jedes Augenblicks erst mit der Zeit zustande, ppe_522.023 aber sie läßt sich auch zu jeder Zeit wiederholen durch erneute ppe_522.024 Wiedergabe des Musikstückes und durch erneutes Eindringen ppe_522.025 in die Dichtung. ppe_522.026 Eine Steigerung des Eindrucks durch Wiederholung ist auch bei ppe_522.027 dem Werk der bildenden Kunst möglich, das erst mehrfacher Betrachtung ppe_522.028 sich voll erschließt; aber es gibt bei ihm kein da capo der ppe_522.029 Vorführung; es ist immer da und kann so, wie es da ist, nicht erneuert, ppe_522.030 sondern höchstens wiederhergestellt oder kopiert werden. Es ppe_522.031 stellt nicht nur Raum vor und braucht Raum zu seiner Darstellung, ppe_522.032 sondern es steht einmalig in seinem Raum und leistet in dieser bleibenden ppe_522.033 Einmaligkeit dem Drang der Zeit Widerstand. Während die ppe_522.034 Zeit jedes Werk der bildenden Kunst mit allmählicher Zerstörung ppe_522.035 bedroht, so daß menschliche Aufsicht darauf bedacht sein muß, es ppe_522.036 in seiner Einmaligkeit zu beschützen, haben bei Kompositionen der ppe_522.037 Musik und der Dichtkunst lediglich die ersten Niederschriften ihrer ppe_522.038 Schöpfer oder die ersten Drucke, wenn sie besonders selten sind, ppe_522.039 Denkmalswert. Weitere Kopien bedeuten für den sammelnden Liebhaber ppe_522.040 eine Entwertung. Aber Noten und Buchstaben verlieren durch ppe_522.041 getreue Vervielfältigung, die ihr Weiterleben sichert, nicht an Bedeutung

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/546>, abgerufen am 22.11.2024.