ppe_063.001 Dieser dritten Hauptgattung wurde die gesamte Kunstprosa zugerechnet. ppe_063.002 Auch Schiller hat den Romanschreiber nur als Halbbruder des ppe_063.003 Dichters gelten lassen wollen, Bernhardis "Sprachlehre" nannte die ppe_063.004 Form des Romans halbpoetisch, und noch Paul Ernst sprach vom ppe_063.005 Roman als Halbkunst. Dagegen schreibt ein Dichter unserer Tage, ppe_063.006 wie Erwin Guido Kolbenheyer, dem Naturalismus das Verdienst zu, ppe_063.007 den Roman zur Dichtung gemacht zu haben, und Oswald Spengler ppe_063.008 hielt ihn für die größte Wortkunstform des Jahrhunderts. Ist in dieser ppe_063.009 Richtung der Begriff erweitert, so hat er umgekehrt eine Verengerung ppe_063.010 erlebt, indem aller lehrhafte Reimgebrauch mehr und mehr aus ppe_063.011 der als Ausdrucksform begriffenen Dichtung ausschied. Es wird deutlich, ppe_063.012 daß nach Kriterien der äußeren Sprachform keine Unterscheidung ppe_063.013 zu treffen ist.
ppe_063.014 Der Abgrenzung von "Dichtung" und "Literatur" hat Benedetto ppe_063.015 Croce jüngst ein eigenes Buch gewidmet, nachdem er alle möglichen ppe_063.016 Werke der Ästhetik, Poetik und Rhetorik vergebens nachgeschlagen ppe_063.017 hatte, um eine befriedigende Erklärung zu finden. Was er selbst beiträgt, ppe_063.018 dürfte auch noch keine endgültige Lösung darstellen. Der Dichtung ppe_063.019 als innerlicher Weltschöpfung, die alle Teile zu einem harmonischen ppe_063.020 Ganzen verknüpfend, aus der Enge des Endlichen ins Unendliche ppe_063.021 hinüberträgt und dem einzigen Kriterium der Schönheit unterworfen ppe_063.022 ist, wird die "espressione letteraria" als eine auf gesellschaftlichen ppe_063.023 Grundlagen beruhende Geistesform anderer Art gegenübergestellt; ppe_063.024 daneben findet noch eine prosaische, eine rednerische, eine ppe_063.025 empfindsame und eine leidenschaftliche Ausdrucksform der Sprache ppe_063.026 ihren Platz. Praktisch aber bleibt die schon früher vertretene Auffassung ppe_063.027 in Geltung, daß nur die schöpferischen Geister zur Geschichte ppe_063.028 der Dichtung gehören. Für die überragenden eigenschöpferischen ppe_063.029 Werke, die über alle nationale und zeitliche Gebundenheit erhaben ppe_063.030 sind, bleibt die ästhetische Methode anwendbar, die das Große vereinzeln ppe_063.031 muß oder allenfalls miteinander vergleichen kann, aber es ppe_063.032 nicht nach seinen Ursprüngen zu begreifen sucht. Wenn dabei die ppe_063.033 historische Betrachtungsweise ausdrücklich ausgeschlossen wird, kann ppe_063.034 man dann eigentlich von Geschichte der Dichtung sprechen? Die von ppe_063.035 Croce anerkannte "storia della poesia" ist angewandte Ästhetik, aber ppe_063.036 keine Geschichte. Anders darf es bei den kleinen Geistern sein; alle ppe_063.037 Werte, die zeitlich und räumlich gebunden sind, sollen nach historischer ppe_063.038 Methode behandelt werden; dafür sind sie aber nicht der Dichtungsgeschichte, ppe_063.039 sondern der Geschichte der Kultur, der Neigungen ppe_063.040 und der Zielsetzungen verschiedener Völker zuzusprechen.
ppe_063.041 Bei solcher Gebietsaufteilung zwischen einer auf geschichtliche
ppe_063.001 Dieser dritten Hauptgattung wurde die gesamte Kunstprosa zugerechnet. ppe_063.002 Auch Schiller hat den Romanschreiber nur als Halbbruder des ppe_063.003 Dichters gelten lassen wollen, Bernhardis „Sprachlehre“ nannte die ppe_063.004 Form des Romans halbpoetisch, und noch Paul Ernst sprach vom ppe_063.005 Roman als Halbkunst. Dagegen schreibt ein Dichter unserer Tage, ppe_063.006 wie Erwin Guido Kolbenheyer, dem Naturalismus das Verdienst zu, ppe_063.007 den Roman zur Dichtung gemacht zu haben, und Oswald Spengler ppe_063.008 hielt ihn für die größte Wortkunstform des Jahrhunderts. Ist in dieser ppe_063.009 Richtung der Begriff erweitert, so hat er umgekehrt eine Verengerung ppe_063.010 erlebt, indem aller lehrhafte Reimgebrauch mehr und mehr aus ppe_063.011 der als Ausdrucksform begriffenen Dichtung ausschied. Es wird deutlich, ppe_063.012 daß nach Kriterien der äußeren Sprachform keine Unterscheidung ppe_063.013 zu treffen ist.
ppe_063.014 Der Abgrenzung von „Dichtung“ und „Literatur“ hat Benedetto ppe_063.015 Croce jüngst ein eigenes Buch gewidmet, nachdem er alle möglichen ppe_063.016 Werke der Ästhetik, Poetik und Rhetorik vergebens nachgeschlagen ppe_063.017 hatte, um eine befriedigende Erklärung zu finden. Was er selbst beiträgt, ppe_063.018 dürfte auch noch keine endgültige Lösung darstellen. Der Dichtung ppe_063.019 als innerlicher Weltschöpfung, die alle Teile zu einem harmonischen ppe_063.020 Ganzen verknüpfend, aus der Enge des Endlichen ins Unendliche ppe_063.021 hinüberträgt und dem einzigen Kriterium der Schönheit unterworfen ppe_063.022 ist, wird die „espressione letteraria“ als eine auf gesellschaftlichen ppe_063.023 Grundlagen beruhende Geistesform anderer Art gegenübergestellt; ppe_063.024 daneben findet noch eine prosaische, eine rednerische, eine ppe_063.025 empfindsame und eine leidenschaftliche Ausdrucksform der Sprache ppe_063.026 ihren Platz. Praktisch aber bleibt die schon früher vertretene Auffassung ppe_063.027 in Geltung, daß nur die schöpferischen Geister zur Geschichte ppe_063.028 der Dichtung gehören. Für die überragenden eigenschöpferischen ppe_063.029 Werke, die über alle nationale und zeitliche Gebundenheit erhaben ppe_063.030 sind, bleibt die ästhetische Methode anwendbar, die das Große vereinzeln ppe_063.031 muß oder allenfalls miteinander vergleichen kann, aber es ppe_063.032 nicht nach seinen Ursprüngen zu begreifen sucht. Wenn dabei die ppe_063.033 historische Betrachtungsweise ausdrücklich ausgeschlossen wird, kann ppe_063.034 man dann eigentlich von Geschichte der Dichtung sprechen? Die von ppe_063.035 Croce anerkannte „storia della poesia“ ist angewandte Ästhetik, aber ppe_063.036 keine Geschichte. Anders darf es bei den kleinen Geistern sein; alle ppe_063.037 Werte, die zeitlich und räumlich gebunden sind, sollen nach historischer ppe_063.038 Methode behandelt werden; dafür sind sie aber nicht der Dichtungsgeschichte, ppe_063.039 sondern der Geschichte der Kultur, der Neigungen ppe_063.040 und der Zielsetzungen verschiedener Völker zuzusprechen.
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/87>, abgerufen am 24.11.2024.
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