ppe_064.001 Grundlagen verzichtenden Poetik, die sich der Kritik und Ästhetik ppe_064.002 hoher Dichtung widmet, und einer Literaturgeschichte, die nur Teil ppe_064.003 der Kulturgeschichte wäre und wirkliche Dichtung auszuschließen ppe_064.004 hätte, würden Gipfel getrennt, die in den reinen Äther ragen, und ppe_064.005 Täler, in denen die arbeitenden Menschen sich drängen und jagen; ppe_064.006 dazwischen aber läge eine undurchdringliche Wolkenschicht. So kann ppe_064.007 es indessen unmöglich gemeint sein, daß die für geschichtliche Betrachtung ppe_064.008 freigegebene Rumpfliteratur, der die Dichter fehlen, als ppe_064.009 abgerahmte Magermilch und als Kuchen, aus dem die Rosinen herausgepickt ppe_064.010 sind, übrig bliebe. Vielmehr stehen auch die großen Dichter ppe_064.011 mit ihren Füßen in der Kulturgeschichte, in der die Voraussetzungen ppe_064.012 ihres Werdens liegen; mit Leib, Herz und Sinnen gehören sie der ppe_064.013 Literatur- und Geistesgeschichte ihrer Völker an, die ohne sie nicht ppe_064.014 zu denken ist; nur die Häupter ragen in eine Sphäre, zu der die ppe_064.015 Literaturgeschichte wohl den Ausblick bietet, die aber in ihren überzeitlichen ppe_064.016 Werten den geschichtlichen Bedingungen entrückt ist.
ppe_064.017 Mit der ganz anderen Methode einer "Wesensanatomie" bemüht ppe_064.018 sich der Phänomenologe Roman Ingarden, das literarische Kunstwerk ppe_064.019 von dem Grenzfall des wissenschaftlichen Werkes zu trennen. Dem ppe_064.020 wissenschaftlichen Werk wird eine analoge Polyphonie im Schichtenaufbau ppe_064.021 sprachlicher Lautgebilde und Bedeutungseinheiten dargestellter ppe_064.022 Gegenständlichkeiten und schematisierter Ansichten zugestanden, ppe_064.023 nur daß die Gewichtsverteilung eine andere ist. Die eigene Funktion ppe_064.024 des Wissenschaftswerkes wird gesehen im Gebrauch echter Urteile ppe_064.025 und in der Unterordnung der ästhetischen Wertqualitäten unter die ppe_064.026 Festlegung gewonnener Erkenntnisresultate. Aber der Grenzfall tritt ppe_064.027 in Wahrheit erst ein, wenn die Urteile nicht echt sind, sondern sich ppe_064.028 einer künstlerischen Absicht unterordnen, so daß die ästhetischen ppe_064.029 Wertqualitäten über die Erkenntnisresultate dominieren. Auf diese ppe_064.030 Weise kommen zur schönen Literatur die Predigten und politischen ppe_064.031 Reden, die Erzählungen für die Jugend, die Aphorismensammlungen, ppe_064.032 Kritiken und satirischen Skizzen, die Reisebeschreibungen, Selbstbiographien, ppe_064.033 Briefe und Tagebücher, ja fast das ganze Zeitungsfeuilleton. ppe_064.034 Alles kann einen gewissen Anspruch erheben, als sprachliches ppe_064.035 Kunstschaffen angesehen zu werden.
ppe_064.036 Wenn man nun als Zwischenfeld zwischen Wissenschaft und Dichtung ppe_064.037 die Belletristik, also die "schöne Literatur" im engeren Sinne, ppe_064.038 ansieht, gelangt man zu einer Abstufung, die mit der Einteilung ppe_064.039 Dragomirescus von "oeuvres pratiques", "oeuvres artistiques" und ppe_064.040 "chefs-d'oeuvre" ziemlich übereinstimmt. Aber das bedeutet eine ppe_064.041 ästhetische Wertskala, wie sie Ingarden vermeiden wollte. Er hatte
ppe_064.001 Grundlagen verzichtenden Poetik, die sich der Kritik und Ästhetik ppe_064.002 hoher Dichtung widmet, und einer Literaturgeschichte, die nur Teil ppe_064.003 der Kulturgeschichte wäre und wirkliche Dichtung auszuschließen ppe_064.004 hätte, würden Gipfel getrennt, die in den reinen Äther ragen, und ppe_064.005 Täler, in denen die arbeitenden Menschen sich drängen und jagen; ppe_064.006 dazwischen aber läge eine undurchdringliche Wolkenschicht. So kann ppe_064.007 es indessen unmöglich gemeint sein, daß die für geschichtliche Betrachtung ppe_064.008 freigegebene Rumpfliteratur, der die Dichter fehlen, als ppe_064.009 abgerahmte Magermilch und als Kuchen, aus dem die Rosinen herausgepickt ppe_064.010 sind, übrig bliebe. Vielmehr stehen auch die großen Dichter ppe_064.011 mit ihren Füßen in der Kulturgeschichte, in der die Voraussetzungen ppe_064.012 ihres Werdens liegen; mit Leib, Herz und Sinnen gehören sie der ppe_064.013 Literatur- und Geistesgeschichte ihrer Völker an, die ohne sie nicht ppe_064.014 zu denken ist; nur die Häupter ragen in eine Sphäre, zu der die ppe_064.015 Literaturgeschichte wohl den Ausblick bietet, die aber in ihren überzeitlichen ppe_064.016 Werten den geschichtlichen Bedingungen entrückt ist.
ppe_064.017 Mit der ganz anderen Methode einer „Wesensanatomie“ bemüht ppe_064.018 sich der Phänomenologe Roman Ingarden, das literarische Kunstwerk ppe_064.019 von dem Grenzfall des wissenschaftlichen Werkes zu trennen. Dem ppe_064.020 wissenschaftlichen Werk wird eine analoge Polyphonie im Schichtenaufbau ppe_064.021 sprachlicher Lautgebilde und Bedeutungseinheiten dargestellter ppe_064.022 Gegenständlichkeiten und schematisierter Ansichten zugestanden, ppe_064.023 nur daß die Gewichtsverteilung eine andere ist. Die eigene Funktion ppe_064.024 des Wissenschaftswerkes wird gesehen im Gebrauch echter Urteile ppe_064.025 und in der Unterordnung der ästhetischen Wertqualitäten unter die ppe_064.026 Festlegung gewonnener Erkenntnisresultate. Aber der Grenzfall tritt ppe_064.027 in Wahrheit erst ein, wenn die Urteile nicht echt sind, sondern sich ppe_064.028 einer künstlerischen Absicht unterordnen, so daß die ästhetischen ppe_064.029 Wertqualitäten über die Erkenntnisresultate dominieren. Auf diese ppe_064.030 Weise kommen zur schönen Literatur die Predigten und politischen ppe_064.031 Reden, die Erzählungen für die Jugend, die Aphorismensammlungen, ppe_064.032 Kritiken und satirischen Skizzen, die Reisebeschreibungen, Selbstbiographien, ppe_064.033 Briefe und Tagebücher, ja fast das ganze Zeitungsfeuilleton. ppe_064.034 Alles kann einen gewissen Anspruch erheben, als sprachliches ppe_064.035 Kunstschaffen angesehen zu werden.
ppe_064.036 Wenn man nun als Zwischenfeld zwischen Wissenschaft und Dichtung ppe_064.037 die Belletristik, also die „schöne Literatur“ im engeren Sinne, ppe_064.038 ansieht, gelangt man zu einer Abstufung, die mit der Einteilung ppe_064.039 Dragomirescus von „œuvres pratiques“, „œuvres artistiques“ und ppe_064.040 „chefs-d'œuvre“ ziemlich übereinstimmt. Aber das bedeutet eine ppe_064.041 ästhetische Wertskala, wie sie Ingarden vermeiden wollte. Er hatte
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/88>, abgerufen am 24.11.2024.
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