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Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825.

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für die ästhetische Darstellung in der didactischen ppo_250.002
Dichtkunst zu vermitteln vermögen; so giebt es auch ppo_250.003
Naturgegenstände und Vorgänge in der Wirklichkeit ppo_250.004
(z. B. ein stinkender Sumpf, ein verwesender thierischer ppo_250.005
Leichnam, eine Lazareth-Amputation, eine Section ppo_250.006
u. s. w.), die sich nicht für die dichterischen Darstellungen ppo_250.007
eignen, weil sie das Gefühl zurückstoßen, statt ppo_250.008
daß es für die dichterische Behandlung mächtig aufgeregt, ppo_250.009
so wie, durch diese Aufregung, die Einbildungskraft ppo_250.010
in eine freie Thätigkeit zur Hervorbringung ppo_250.011
einer idealischen Form versetzt werden soll.

ppo_250.012

Allein für diese Beschränkung der epischen Dichtkunst ppo_250.013
von der einen Seite in Hinsicht des Stoffes, ppo_250.014
wird sie von der andern wieder hinreichend entschädigt, ppo_250.015
daß sie, was dem Geschichtschreiber in der ppo_250.016
Prosa nie verstattet ist, theils die wirklichen Naturgegenstände ppo_250.017
und Thatsachen der Geschichte, nicht ppo_250.018
nach ihrer geschichtlichen Wahrheit, sondern nach ppo_250.019
ihrer ästhetischen Darstellbarkeit, d. h. nach den Gesetzen ppo_250.020
des Jdeals behandeln, theils daß sie sogar, ppo_250.021
nach der Aehnlichkeit wirklicher Erscheinungen und ppo_250.022
Vorgänge, Naturerscheinungen, Jndividuen und ppo_250.023
Thatsachen, die nie im Kreise der wirklichen Welt ppo_250.024
bestanden, durch die schöpferische Einbildungskraft ppo_250.025
ins Daseyn rufen darf, unter der einzigen Bedingung, ppo_250.026
daß der darzustellende Stoff einen ästhetischen ppo_250.027
Charakter trägt, und daß er von dem Dichter ppo_250.028
zur vollendeten Einheit der Form erhoben wird.

ppo_250.029

Durch dieses freie Schaffen einer idealischen ppo_250.030
geschichtlichen Welt unterscheidet sich daher der epische ppo_250.031
Dichter wesentlich von dem Geschichtsschreiber ppo_250.032
in der Prosa. Es heißt den Charakter der epischen ppo_250.033
Dichtkunst, nach der Unermeßlichkeit ihrer Stoffe ppo_250.034
und Gebilde, ganz verkennen, wenn man z. B. dem

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für die ästhetische Darstellung in der didactischen ppo_250.002
Dichtkunst zu vermitteln vermögen; so giebt es auch ppo_250.003
Naturgegenstände und Vorgänge in der Wirklichkeit ppo_250.004
(z. B. ein stinkender Sumpf, ein verwesender thierischer ppo_250.005
Leichnam, eine Lazareth-Amputation, eine Section ppo_250.006
u. s. w.), die sich nicht für die dichterischen Darstellungen ppo_250.007
eignen, weil sie das Gefühl zurückstoßen, statt ppo_250.008
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so wie, durch diese Aufregung, die Einbildungskraft ppo_250.010
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einer idealischen Form versetzt werden soll.

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Allein für diese Beschränkung der epischen Dichtkunst ppo_250.013
von der einen Seite in Hinsicht des Stoffes, ppo_250.014
wird sie von der andern wieder hinreichend entschädigt, ppo_250.015
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Prosa nie verstattet ist, theils die wirklichen Naturgegenstände ppo_250.017
und Thatsachen der Geschichte, nicht ppo_250.018
nach ihrer geschichtlichen Wahrheit, sondern nach ppo_250.019
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des Jdeals behandeln, theils daß sie sogar, ppo_250.021
nach der Aehnlichkeit wirklicher Erscheinungen und ppo_250.022
Vorgänge, Naturerscheinungen, Jndividuen und ppo_250.023
Thatsachen, die nie im Kreise der wirklichen Welt ppo_250.024
bestanden, durch die schöpferische Einbildungskraft ppo_250.025
ins Daseyn rufen darf, unter der einzigen Bedingung, ppo_250.026
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Charakter trägt, und daß er von dem Dichter ppo_250.028
zur vollendeten Einheit der Form erhoben wird.

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Durch dieses freie Schaffen einer idealischen ppo_250.030
geschichtlichen Welt unterscheidet sich daher der epische ppo_250.031
Dichter wesentlich von dem Geschichtsschreiber ppo_250.032
in der Prosa. Es heißt den Charakter der epischen ppo_250.033
Dichtkunst, nach der Unermeßlichkeit ihrer Stoffe ppo_250.034
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[250/0262] ppo_250.001 für die ästhetische Darstellung in der didactischen ppo_250.002 Dichtkunst zu vermitteln vermögen; so giebt es auch ppo_250.003 Naturgegenstände und Vorgänge in der Wirklichkeit ppo_250.004 (z. B. ein stinkender Sumpf, ein verwesender thierischer ppo_250.005 Leichnam, eine Lazareth-Amputation, eine Section ppo_250.006 u. s. w.), die sich nicht für die dichterischen Darstellungen ppo_250.007 eignen, weil sie das Gefühl zurückstoßen, statt ppo_250.008 daß es für die dichterische Behandlung mächtig aufgeregt, ppo_250.009 so wie, durch diese Aufregung, die Einbildungskraft ppo_250.010 in eine freie Thätigkeit zur Hervorbringung ppo_250.011 einer idealischen Form versetzt werden soll. ppo_250.012 Allein für diese Beschränkung der epischen Dichtkunst ppo_250.013 von der einen Seite in Hinsicht des Stoffes, ppo_250.014 wird sie von der andern wieder hinreichend entschädigt, ppo_250.015 daß sie, was dem Geschichtschreiber in der ppo_250.016 Prosa nie verstattet ist, theils die wirklichen Naturgegenstände ppo_250.017 und Thatsachen der Geschichte, nicht ppo_250.018 nach ihrer geschichtlichen Wahrheit, sondern nach ppo_250.019 ihrer ästhetischen Darstellbarkeit, d. h. nach den Gesetzen ppo_250.020 des Jdeals behandeln, theils daß sie sogar, ppo_250.021 nach der Aehnlichkeit wirklicher Erscheinungen und ppo_250.022 Vorgänge, Naturerscheinungen, Jndividuen und ppo_250.023 Thatsachen, die nie im Kreise der wirklichen Welt ppo_250.024 bestanden, durch die schöpferische Einbildungskraft ppo_250.025 ins Daseyn rufen darf, unter der einzigen Bedingung, ppo_250.026 daß der darzustellende Stoff einen ästhetischen ppo_250.027 Charakter trägt, und daß er von dem Dichter ppo_250.028 zur vollendeten Einheit der Form erhoben wird. ppo_250.029 Durch dieses freie Schaffen einer idealischen ppo_250.030 geschichtlichen Welt unterscheidet sich daher der epische ppo_250.031 Dichter wesentlich von dem Geschichtsschreiber ppo_250.032 in der Prosa. Es heißt den Charakter der epischen ppo_250.033 Dichtkunst, nach der Unermeßlichkeit ihrer Stoffe ppo_250.034 und Gebilde, ganz verkennen, wenn man z. B. dem

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Zitationshilfe: Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/262>, abgerufen am 11.06.2024.