Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Berlin, 1897.Jahre 1894 mit daß in Folge der ungünstigen Konjunktur und Jahre 1894 mit daß in Folge der ungünſtigen Konjunktur und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0030" n="22"/> Jahre 1894 mit daß in Folge der ungünſtigen Konjunktur und<lb/> übergroßen Arbeitsloſigkeit die Gefahr vorliege, daß die Fabrikanten<lb/> die Arbeitsverhältniſſe verſchlechtern würden. Durch Gewährung<lb/> von Arbeitsloſen-Unterſtützung auch an die noch nicht bezugs¬<lb/> berechtigten Mitglieder gelanges, den Zuzug von Handſchuhmachern<lb/> von den bedrohten Orten fernzuhalten und dadurch einer Lohn¬<lb/> reduktion ſeitens der Fabrikanten vorzubeugen. — Und was<lb/> ſagen zu ſolchen Thatſachen die Helden, welche durch leere Redens¬<lb/> arten die Arbeitsloſen-Unterſtützung glauben abthun zu können?<lb/> — Komme ich nun zu den hauptſächlichſten Einwänden, die gegen<lb/> die Arbeitsloſen-Unterſtützung gemacht werden. — „Die Unter¬<lb/> ſtützung der Arbeitsloſen ſei aus prinzipiellen Gründen zu ver¬<lb/> werfen.“ „Der Staat habe die Verpflichtung, die Arbeitsloſen<lb/> zu unterſtützen.“ — So lauten einige der erſten Einwände. Ich<lb/> habe nun ſchon am Anfang dieſes Abſchnittes darauf ausführlich<lb/> hingewieſen, daß die Frage der Arbeitsloſen-Unterſtützung gar<lb/> keine <hi rendition="#g">prinzipielle</hi>, ſondern eine rein <hi rendition="#g">taktiſche</hi> iſt. — Ferner:<lb/> Der heutige Staat erkennt die Verpflichtung, irgend einem ſeiner<lb/> Mitglieder eine Garantie für ſeine Exiſtenz zu bieten, nicht an<lb/> und ebenſowenig glaubt er verpflichtet zu ſein, die Arbeitsloſen<lb/> zu unterſtützen. Es ſind auch nicht die geringſten Ausſichten<lb/> vorhanden, daß er in den nächſten Jahren und Jahrzehnten eine<lb/> ſolche Verpflichtung anerkennen wird. — Sind wir nun auch<lb/> der Meinung, daß die Geſellſchaft wohl die Verpflichtung habe,<lb/> ihren Mitgliedern, ſoweit dieſe zum Nutzen derſelben thätig ſein<lb/> wollen, eine Garantie für ihre Exiſtenz zu bieten, ſo iſt es doch<lb/> kindiſch gehandelt, wenn man aus dieſem Grunde gegen die Ein¬<lb/> führung der Arbeitsloſen-Unterſtützung iſt. Gerade ſie ſoll dazu<lb/> dienen, um das Proletariat vorwärts zu bringen, um ſo immer<lb/> näher jenem Geſellſchaftszuſtand zu kommen, der uns als Ideal<lb/> vorſchwebt. Iſt die Behauptung richtig, daß der Staat die Ver¬<lb/> pflichtung habe, die Arbeitsloſen zu unterſtützen und deshalb eine<lb/> Unterſtützung derſelben durch die Gewerkſchaftsorganiſationen zu<lb/> verwerfen ſei, ſo muß man logiſcher Weiſe auch die Gewerkſchafts¬<lb/> bewegung verwerfen, denn in demſelben Sinne hat dann auch<lb/> der Staat die Verpflichtung, den Arbeitern eine ſolche Exiſtenz<lb/> zu gewähren, bei der ſie auskömmlich leben können und nicht<lb/> erſt ſich eine derartige durch große Opfer erkämpfen müſſen. —<lb/> Dann ſind viele aus dem Grunde gegen die Arbeitsloſen-Unter¬<lb/> ſtützung, weil ſie meinen, die Arbeiterklaſſe müſſe noch tiefer in<lb/> ihrer materiellen Lage ſinken, dann erſt werde ſie ſich zu einem<lb/> gewaltigen Kampfe aufraffen; die Unterſtützung der Arbeitsloſen<lb/> diene aber zur Verbeſſerung ihrer Lage. — Dieſe Anſicht iſt<lb/> grundfalſch. Sinkt das Proletariat in ſeiner Lebenslage noch<lb/> tiefer, ſo wird es ſich nie aus ſeinem elendiglichen Verhältniſſen<lb/> befreien können. Nur Maſſen, die einigermaßen ihren Hunger<lb/> befriedigen können, ſind im Stande, zu denken, ſich planmäßig<lb/> zu organiſiren und ſo eine beſſere Zukunft zu erſtreben. Maſſen,<lb/> die dagegen hungern müſſen, werden ſo weit durch die Noth ge¬<lb/> trieben, daß ſie nicht mehr in dem Kapital ihren Feind erblicken,<lb/> ſondern in dem eigenen Arbeitsbruder. Die Noth korrumpirt<lb/> die Maſſen, jedes Klaſſengefühl geht ihnen verloren, niedere<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [22/0030]
Jahre 1894 mit daß in Folge der ungünſtigen Konjunktur und
übergroßen Arbeitsloſigkeit die Gefahr vorliege, daß die Fabrikanten
die Arbeitsverhältniſſe verſchlechtern würden. Durch Gewährung
von Arbeitsloſen-Unterſtützung auch an die noch nicht bezugs¬
berechtigten Mitglieder gelanges, den Zuzug von Handſchuhmachern
von den bedrohten Orten fernzuhalten und dadurch einer Lohn¬
reduktion ſeitens der Fabrikanten vorzubeugen. — Und was
ſagen zu ſolchen Thatſachen die Helden, welche durch leere Redens¬
arten die Arbeitsloſen-Unterſtützung glauben abthun zu können?
— Komme ich nun zu den hauptſächlichſten Einwänden, die gegen
die Arbeitsloſen-Unterſtützung gemacht werden. — „Die Unter¬
ſtützung der Arbeitsloſen ſei aus prinzipiellen Gründen zu ver¬
werfen.“ „Der Staat habe die Verpflichtung, die Arbeitsloſen
zu unterſtützen.“ — So lauten einige der erſten Einwände. Ich
habe nun ſchon am Anfang dieſes Abſchnittes darauf ausführlich
hingewieſen, daß die Frage der Arbeitsloſen-Unterſtützung gar
keine prinzipielle, ſondern eine rein taktiſche iſt. — Ferner:
Der heutige Staat erkennt die Verpflichtung, irgend einem ſeiner
Mitglieder eine Garantie für ſeine Exiſtenz zu bieten, nicht an
und ebenſowenig glaubt er verpflichtet zu ſein, die Arbeitsloſen
zu unterſtützen. Es ſind auch nicht die geringſten Ausſichten
vorhanden, daß er in den nächſten Jahren und Jahrzehnten eine
ſolche Verpflichtung anerkennen wird. — Sind wir nun auch
der Meinung, daß die Geſellſchaft wohl die Verpflichtung habe,
ihren Mitgliedern, ſoweit dieſe zum Nutzen derſelben thätig ſein
wollen, eine Garantie für ihre Exiſtenz zu bieten, ſo iſt es doch
kindiſch gehandelt, wenn man aus dieſem Grunde gegen die Ein¬
führung der Arbeitsloſen-Unterſtützung iſt. Gerade ſie ſoll dazu
dienen, um das Proletariat vorwärts zu bringen, um ſo immer
näher jenem Geſellſchaftszuſtand zu kommen, der uns als Ideal
vorſchwebt. Iſt die Behauptung richtig, daß der Staat die Ver¬
pflichtung habe, die Arbeitsloſen zu unterſtützen und deshalb eine
Unterſtützung derſelben durch die Gewerkſchaftsorganiſationen zu
verwerfen ſei, ſo muß man logiſcher Weiſe auch die Gewerkſchafts¬
bewegung verwerfen, denn in demſelben Sinne hat dann auch
der Staat die Verpflichtung, den Arbeitern eine ſolche Exiſtenz
zu gewähren, bei der ſie auskömmlich leben können und nicht
erſt ſich eine derartige durch große Opfer erkämpfen müſſen. —
Dann ſind viele aus dem Grunde gegen die Arbeitsloſen-Unter¬
ſtützung, weil ſie meinen, die Arbeiterklaſſe müſſe noch tiefer in
ihrer materiellen Lage ſinken, dann erſt werde ſie ſich zu einem
gewaltigen Kampfe aufraffen; die Unterſtützung der Arbeitsloſen
diene aber zur Verbeſſerung ihrer Lage. — Dieſe Anſicht iſt
grundfalſch. Sinkt das Proletariat in ſeiner Lebenslage noch
tiefer, ſo wird es ſich nie aus ſeinem elendiglichen Verhältniſſen
befreien können. Nur Maſſen, die einigermaßen ihren Hunger
befriedigen können, ſind im Stande, zu denken, ſich planmäßig
zu organiſiren und ſo eine beſſere Zukunft zu erſtreben. Maſſen,
die dagegen hungern müſſen, werden ſo weit durch die Noth ge¬
trieben, daß ſie nicht mehr in dem Kapital ihren Feind erblicken,
ſondern in dem eigenen Arbeitsbruder. Die Noth korrumpirt
die Maſſen, jedes Klaſſengefühl geht ihnen verloren, niedere
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