Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Berlin, 1897.Selbstsucht, Schmeichelei und Kriecherei tritt an die Stelle der Selbſtſucht, Schmeichelei und Kriecherei tritt an die Stelle der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0031" n="23"/> Selbſtſucht, Schmeichelei und Kriecherei tritt an die Stelle der<lb/> Moralität, Die Loſung geht dann dahin, durch unmoraliſche<lb/> Mittel ſich eine Exiſtenz zu ſchaffen. Das Lumpenproletariat,<lb/> dieſes Produkt der größten Noth, hat nie Klaſſenbewußtſein be¬<lb/> ſeſſen, ſondern iſt durchgängig bei allen gewerkſchaftlichen, po¬<lb/> litiſchen Kämpfen und Revolutionen auf die Seite der gewalt¬<lb/> habenden Klaſſe getreten. Wohl iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß<lb/> Maſſen, die äußerſt tief in ihrer Lebenslage ſtehen, einen<lb/> dumpfen gewaltſamen Verzweiflungskampf unternehmen, doch<lb/> dieſe Maſſen werden dann <choice><sic>unterliegeu</sic><corr>unterliegen</corr></choice> oder die Kultur vernichten.<lb/> Unterliegen deshalb, weil dann unmöglich von einem planmäßigen<lb/> Vorgehen die Rede ſein kann, (antike Sklavenkämpfe, Bauern¬<lb/> krieg ꝛc.); die Kultur vernichten, wenn ſie ſelbſt zur Herrſchaft<lb/> gelangen ſollten, weil es ihnen an der Fähigkeit mangelt, die<lb/> zerſtörte Geſellſchaft aufzubauen. <hi rendition="#g">Donnelly</hi> hat in ſeinem Ro¬<lb/> man „Caeſars Säule“ wohl ſehr richtig geſchildert, wohin es<lb/> führen muß, wenn die Maſſe immer tiefer ſinkt, nämlich zur<lb/> Vernichtung der Kultur. Darum iſt es unſere Pflicht, für die<lb/> Hebung der Lebenslage des Proletariats einzutreten und nicht<lb/> auf eine verzweifelte, gewaltſame Erhebung der Maſſen unſere<lb/> Hoffnung zu ſetzen. — „Ja aber die Arbeitsloſen-Unterſtützung<lb/> iſt aus materiellen Gründen nicht durchführbar, da dann die<lb/> Beiträge bedeutend erhöht werden müſſen,“ ſo lautet ein weiterer<lb/> Einwand gegen dieſelbe. Müſſen die Beiträge denn wirklich ſo<lb/> bedeutend erhöht werden? Nein, keineswegs! Wenn oft zum<lb/> Beweiſe dieſer Behauptung ausgeführt wird, daß die Buchdrucker<lb/> doch 1,10 Mk. pro Woche Beitrag zahlen, um die Arbeitsloſen<lb/> unterſtützen zu können, ſo iſt auch dieſer Beweis vollſtändig ver¬<lb/> fehlt. Die Buchdrucker zahlen zur Unterſtützung der Arbeitsloſen<lb/> nach der Angabe von <hi rendition="#g">Eichler</hi>, welche derſelbe auf dem letzten<lb/> Gewerkſchaftskongreß machte, pro Woche nur 10 Pfg., während<lb/> der andere Beitrag zu ganz anderen Dingen verwandt wird.<lb/> Im Jahre 1894 gab die Vereinigung der Buchdrucker für<lb/> Reiſe-Unterſtützung 114913,15 Mark, für Umzugskoſten<lb/> 16921,40 Mark, für Unterſtützung an dauernd Arbeitsunfähige<lb/> 15967,00 Mark, für Kranken-Unterſtützung 301931,84 Mark,<lb/> ür Begräbnißgeld 16552,26 Mk., für außerordentliche Unter¬<lb/> ſtützungen 361,20 Mk. und für <hi rendition="#g">Arbeitsloſen-Unterſtützung</hi><lb/> 101562,00 Mk. aus. Wir ſehen alſo aus dieſen Zahlen, daß<lb/> der Beitrag von 1,10 Mk. pro Woche noch zu ganz anderen<lb/> Unterſtützungszwecken gezahlt wird, als einzig und allein zur<lb/> Unterſtützung der Arbeitsloſen. — Können aber die Arbeiter eine<lb/> Erhöhung des Beitrages um 10 und einige Pfennige mehr pro<lb/> Woche ertragen? Mancher verneint dieſes, ich bejahe es. Die<lb/> Annahme, daß durch die ſtaatliche Verſicherung die deutſchen<lb/> Arbeiter in ihrer gewerkſchaftlichen Zahlungsfähigkeit bedeutend<lb/> beeinträchtigt würden, iſt ſchon durch <hi rendition="#g">Parvus</hi> widerlegt worden.<lb/> Er behauptet mit Recht, daß die gewerkſchaftliche Zahlungs¬<lb/> fähigkeit der deutſchen Arbeiter im Verhältniß zu den engliſchen<lb/> durch die ſtaatliche Kranken- und Invaliditäts-Verſicherung <hi rendition="#g">ver¬<lb/> mehrt</hi> werde, da bei uns die Arbeitgeber einen Theil dieſer<lb/> Beiträge aufbringen müſſen, was in England nicht der Fall iſt.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [23/0031]
Selbſtſucht, Schmeichelei und Kriecherei tritt an die Stelle der
Moralität, Die Loſung geht dann dahin, durch unmoraliſche
Mittel ſich eine Exiſtenz zu ſchaffen. Das Lumpenproletariat,
dieſes Produkt der größten Noth, hat nie Klaſſenbewußtſein be¬
ſeſſen, ſondern iſt durchgängig bei allen gewerkſchaftlichen, po¬
litiſchen Kämpfen und Revolutionen auf die Seite der gewalt¬
habenden Klaſſe getreten. Wohl iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß
Maſſen, die äußerſt tief in ihrer Lebenslage ſtehen, einen
dumpfen gewaltſamen Verzweiflungskampf unternehmen, doch
dieſe Maſſen werden dann unterliegen oder die Kultur vernichten.
Unterliegen deshalb, weil dann unmöglich von einem planmäßigen
Vorgehen die Rede ſein kann, (antike Sklavenkämpfe, Bauern¬
krieg ꝛc.); die Kultur vernichten, wenn ſie ſelbſt zur Herrſchaft
gelangen ſollten, weil es ihnen an der Fähigkeit mangelt, die
zerſtörte Geſellſchaft aufzubauen. Donnelly hat in ſeinem Ro¬
man „Caeſars Säule“ wohl ſehr richtig geſchildert, wohin es
führen muß, wenn die Maſſe immer tiefer ſinkt, nämlich zur
Vernichtung der Kultur. Darum iſt es unſere Pflicht, für die
Hebung der Lebenslage des Proletariats einzutreten und nicht
auf eine verzweifelte, gewaltſame Erhebung der Maſſen unſere
Hoffnung zu ſetzen. — „Ja aber die Arbeitsloſen-Unterſtützung
iſt aus materiellen Gründen nicht durchführbar, da dann die
Beiträge bedeutend erhöht werden müſſen,“ ſo lautet ein weiterer
Einwand gegen dieſelbe. Müſſen die Beiträge denn wirklich ſo
bedeutend erhöht werden? Nein, keineswegs! Wenn oft zum
Beweiſe dieſer Behauptung ausgeführt wird, daß die Buchdrucker
doch 1,10 Mk. pro Woche Beitrag zahlen, um die Arbeitsloſen
unterſtützen zu können, ſo iſt auch dieſer Beweis vollſtändig ver¬
fehlt. Die Buchdrucker zahlen zur Unterſtützung der Arbeitsloſen
nach der Angabe von Eichler, welche derſelbe auf dem letzten
Gewerkſchaftskongreß machte, pro Woche nur 10 Pfg., während
der andere Beitrag zu ganz anderen Dingen verwandt wird.
Im Jahre 1894 gab die Vereinigung der Buchdrucker für
Reiſe-Unterſtützung 114913,15 Mark, für Umzugskoſten
16921,40 Mark, für Unterſtützung an dauernd Arbeitsunfähige
15967,00 Mark, für Kranken-Unterſtützung 301931,84 Mark,
ür Begräbnißgeld 16552,26 Mk., für außerordentliche Unter¬
ſtützungen 361,20 Mk. und für Arbeitsloſen-Unterſtützung
101562,00 Mk. aus. Wir ſehen alſo aus dieſen Zahlen, daß
der Beitrag von 1,10 Mk. pro Woche noch zu ganz anderen
Unterſtützungszwecken gezahlt wird, als einzig und allein zur
Unterſtützung der Arbeitsloſen. — Können aber die Arbeiter eine
Erhöhung des Beitrages um 10 und einige Pfennige mehr pro
Woche ertragen? Mancher verneint dieſes, ich bejahe es. Die
Annahme, daß durch die ſtaatliche Verſicherung die deutſchen
Arbeiter in ihrer gewerkſchaftlichen Zahlungsfähigkeit bedeutend
beeinträchtigt würden, iſt ſchon durch Parvus widerlegt worden.
Er behauptet mit Recht, daß die gewerkſchaftliche Zahlungs¬
fähigkeit der deutſchen Arbeiter im Verhältniß zu den engliſchen
durch die ſtaatliche Kranken- und Invaliditäts-Verſicherung ver¬
mehrt werde, da bei uns die Arbeitgeber einen Theil dieſer
Beiträge aufbringen müſſen, was in England nicht der Fall iſt.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |