sen Titel selbst annehmen. Ein Kloster ist ein unverletzter Freyheitsort, an dem sich der König zu vergreifen nicht wagen würde. Einen Tala- poin schimpfen, schlagen, oder in seiner Zelle das geringste entwenden, ist eine Gottesläste- rung, eine Entheiligung, eine Ruchlosigkeit, die mit dem Feuer bestraft wird, so wie man in einigen Ländern Europens einen Kirchenräuber verbrennt. Bey allen diesen Vortheilen hat ein siamischer Prälat keine Gerichtsbarkeit über das Volk, ja nicht einmal über die außer sei- nem Kloster befindlichen Ordensgeistlichen. Al- les was er hat, besteht in der Verwaltung ge- wisser Klöster, die nur von Sankrats können besorgt werden: denn es giebt hier, wie in Eu- ropa, nur unter andern Namen, Abteyen, Prioreyen und bloße Kapellen.
Das Amt der Priester ist, daß sie ihren Eingepfarrten das Gesetz, und die Lehre, die in ihren Büchern enthalten ist, erklären. Sie predigen des Monats ordentlich zweymal; so lange aber die Ueberschwemmungen dauern pre- digen sie alle Tage, früh von sechs Uhr bis zu Mittag, und Nachmittags von ein bis fünf Uhr. Der Prediger sitzt, mit kreuzweis geleg- ten Beinen, in einem erhabenen Armstuhle, und verschiedene Talapoins lösen einander ab. Sie verlassen den Predigtstuhl selten, ohne von den Zuhörern Geschenke zu erhalten. Wenn diese mit der vor getragenen Lehre und der Beredsam-
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ſen Titel ſelbſt annehmen. Ein Kloſter iſt ein unverletzter Freyheitsort, an dem ſich der Koͤnig zu vergreifen nicht wagen wuͤrde. Einen Tala- poin ſchimpfen, ſchlagen, oder in ſeiner Zelle das geringſte entwenden, iſt eine Gotteslaͤſte- rung, eine Entheiligung, eine Ruchloſigkeit, die mit dem Feuer beſtraft wird, ſo wie man in einigen Laͤndern Europens einen Kirchenraͤuber verbrennt. Bey allen dieſen Vortheilen hat ein ſiamiſcher Praͤlat keine Gerichtsbarkeit uͤber das Volk, ja nicht einmal uͤber die außer ſei- nem Kloſter befindlichen Ordensgeiſtlichen. Al- les was er hat, beſteht in der Verwaltung ge- wiſſer Kloͤſter, die nur von Sankrats koͤnnen beſorgt werden: denn es giebt hier, wie in Eu- ropa, nur unter andern Namen, Abteyen, Prioreyen und bloße Kapellen.
Das Amt der Prieſter iſt, daß ſie ihren Eingepfarrten das Geſetz, und die Lehre, die in ihren Buͤchern enthalten iſt, erklaͤren. Sie predigen des Monats ordentlich zweymal; ſo lange aber die Ueberſchwemmungen dauern pre- digen ſie alle Tage, fruͤh von ſechs Uhr bis zu Mittag, und Nachmittags von ein bis fuͤnf Uhr. Der Prediger ſitzt, mit kreuzweis geleg- ten Beinen, in einem erhabenen Armſtuhle, und verſchiedene Talapoins loͤſen einander ab. Sie verlaſſen den Predigtſtuhl ſelten, ohne von den Zuhoͤrern Geſchenke zu erhalten. Wenn dieſe mit der vor getragenen Lehre und der Beredſam-
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ſen Titel ſelbſt annehmen. Ein Kloſter iſt ein
unverletzter Freyheitsort, an dem ſich der Koͤnig
zu vergreifen nicht wagen wuͤrde. Einen Tala-
poin ſchimpfen, ſchlagen, oder in ſeiner Zelle
das geringſte entwenden, iſt eine Gotteslaͤſte-
rung, eine Entheiligung, eine Ruchloſigkeit,
die mit dem Feuer beſtraft wird, ſo wie man in
einigen Laͤndern Europens einen Kirchenraͤuber
verbrennt. Bey allen dieſen Vortheilen hat
ein ſiamiſcher Praͤlat keine Gerichtsbarkeit uͤber
das Volk, ja nicht einmal uͤber die außer ſei-
nem Kloſter befindlichen Ordensgeiſtlichen. Al-
les was er hat, beſteht in der Verwaltung ge-
wiſſer Kloͤſter, die nur von Sankrats koͤnnen
beſorgt werden: denn es giebt hier, wie in Eu-
ropa, nur unter andern Namen, Abteyen,
Prioreyen und bloße Kapellen.
Das Amt der Prieſter iſt, daß ſie ihren
Eingepfarrten das Geſetz, und die Lehre, die
in ihren Buͤchern enthalten iſt, erklaͤren. Sie
predigen des Monats ordentlich zweymal; ſo
lange aber die Ueberſchwemmungen dauern pre-
digen ſie alle Tage, fruͤh von ſechs Uhr bis zu
Mittag, und Nachmittags von ein bis fuͤnf
Uhr. Der Prediger ſitzt, mit kreuzweis geleg-
ten Beinen, in einem erhabenen Armſtuhle, und
verſchiedene Talapoins loͤſen einander ab. Sie
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[Poppe, Johann Friedrich]: Characteristik der merkwürdigsten Asiatischen Nationen. Bd. 2. Breslau, 1777, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poppe_charakteristik02_1777/381>, abgerufen am 22.11.2024.
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