Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

einem gewaltsam gemachten Einschnitte gleicht. Die
Sage erzählt, daß der junge Riese Fian Mac Com-
hal -- als seine Cameraden befürchteten, er sey noch
zu schwach zu dem Kriege, in dem sie eben verwickelt
waren -- um ihnen eine Probe seiner Kraft zu ge-
ben, mit seinem Schwerte diesen Felsen spaltete, und
so jedem ferneren Zweifel ein Ende machte. Weiter
hin entdeckt man in einem, jenseits über den See
hängenden Felsen, gleich einem schwarzen Loch im
Gestein, die Höhle St. Kavins. Hier verbarg sich
der Heilige vor der ihn verfolgenden Liebe der schö-
nen Königstochter Cathelin, und lebte lange, in tief-
ster Einsamkeit von Wurzeln und Kräutern. In ei-
ner verhängnißvollen Stunde entdeckte jedoch die von
der Leidenschaft umhergetriebene Schöne den Flücht-
ling, und überraschte ihn, im Dunkel der Nacht, auf
seinem Mooslager. Mit süßen Küssen erweckte sie
den ungalanten Heiligen, welcher, seine Tugend ver-
loren sehend, sich kurz entschloß, und Cathelin über
Bord warf, wo in den kalten Fluthen des Sees Liebe
und Leben sie zugleich verließ. Doch fühlte der Mann
Gottes nachher ein menschliches Rühren, und legte
einen Zauber über die Gewässer, daß fortan Nie-
mand mehr sein Leben in ihnen verlieren solle, wel-
che Beschwörung noch heut zu Tage in Kraft geblie-
ben ist, wie mein Cicerone bezeugte. Dieser Cicerone
war ein hübscher, wie gewöhnlich halb nackter Knabe
von eilf Jahren, und seine Kleidung ein erwähnungs-
werther Echantillon irländischer Toilette. Er trug
den Leibrock eines erwachsenen Mannes, dem, außer

einem gewaltſam gemachten Einſchnitte gleicht. Die
Sage erzählt, daß der junge Rieſe Fian Mac Com-
hal — als ſeine Cameraden befürchteten, er ſey noch
zu ſchwach zu dem Kriege, in dem ſie eben verwickelt
waren — um ihnen eine Probe ſeiner Kraft zu ge-
ben, mit ſeinem Schwerte dieſen Felſen ſpaltete, und
ſo jedem ferneren Zweifel ein Ende machte. Weiter
hin entdeckt man in einem, jenſeits über den See
hängenden Felſen, gleich einem ſchwarzen Loch im
Geſtein, die Höhle St. Kavins. Hier verbarg ſich
der Heilige vor der ihn verfolgenden Liebe der ſchö-
nen Königstochter Cathelin, und lebte lange, in tief-
ſter Einſamkeit von Wurzeln und Kräutern. In ei-
ner verhängnißvollen Stunde entdeckte jedoch die von
der Leidenſchaft umhergetriebene Schöne den Flücht-
ling, und überraſchte ihn, im Dunkel der Nacht, auf
ſeinem Mooslager. Mit ſüßen Küſſen erweckte ſie
den ungalanten Heiligen, welcher, ſeine Tugend ver-
loren ſehend, ſich kurz entſchloß, und Cathelin über
Bord warf, wo in den kalten Fluthen des Sees Liebe
und Leben ſie zugleich verließ. Doch fühlte der Mann
Gottes nachher ein menſchliches Rühren, und legte
einen Zauber über die Gewäſſer, daß fortan Nie-
mand mehr ſein Leben in ihnen verlieren ſolle, wel-
che Beſchwörung noch heut zu Tage in Kraft geblie-
ben iſt, wie mein Cicerone bezeugte. Dieſer Cicerone
war ein hübſcher, wie gewöhnlich halb nackter Knabe
von eilf Jahren, und ſeine Kleidung ein erwähnungs-
werther Echantillon irländiſcher Toilette. Er trug
den Leibrock eines erwachſenen Mannes, dem, außer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0214" n="190"/>
einem gewalt&#x017F;am gemachten Ein&#x017F;chnitte gleicht. Die<lb/>
Sage erzählt, daß der junge Rie&#x017F;e Fian Mac Com-<lb/>
hal &#x2014; als &#x017F;eine Cameraden befürchteten, er &#x017F;ey noch<lb/>
zu &#x017F;chwach zu dem Kriege, in dem &#x017F;ie eben verwickelt<lb/>
waren &#x2014; um ihnen eine Probe &#x017F;einer Kraft zu ge-<lb/>
ben, mit &#x017F;einem Schwerte die&#x017F;en Fel&#x017F;en &#x017F;paltete, und<lb/>
&#x017F;o jedem ferneren Zweifel ein Ende machte. Weiter<lb/>
hin entdeckt man in einem, jen&#x017F;eits über den See<lb/><choice><sic>ha&#x0307;ngenden</sic><corr>hängenden</corr></choice> Fel&#x017F;en, gleich einem &#x017F;chwarzen Loch im<lb/>
Ge&#x017F;tein, die Höhle St. Kavins. Hier verbarg &#x017F;ich<lb/>
der Heilige vor der ihn verfolgenden Liebe der &#x017F;chö-<lb/>
nen Königstochter Cathelin, und lebte lange, in tief-<lb/>
&#x017F;ter Ein&#x017F;amkeit von Wurzeln und Kräutern. In ei-<lb/>
ner verhängnißvollen Stunde entdeckte jedoch die von<lb/>
der Leiden&#x017F;chaft umhergetriebene Schöne den Flücht-<lb/>
ling, und überra&#x017F;chte ihn, im Dunkel der Nacht, auf<lb/>
&#x017F;einem Mooslager. Mit &#x017F;üßen Kü&#x017F;&#x017F;en erweckte &#x017F;ie<lb/>
den ungalanten Heiligen, welcher, &#x017F;eine Tugend ver-<lb/>
loren &#x017F;ehend, &#x017F;ich kurz ent&#x017F;chloß, und Cathelin über<lb/>
Bord warf, wo in den kalten Fluthen des Sees Liebe<lb/>
und Leben &#x017F;ie zugleich verließ. Doch fühlte der Mann<lb/>
Gottes nachher ein men&#x017F;chliches Rühren, und legte<lb/>
einen Zauber über die Gewä&#x017F;&#x017F;er, daß fortan Nie-<lb/>
mand mehr &#x017F;ein Leben in ihnen verlieren &#x017F;olle, wel-<lb/>
che Be&#x017F;chwörung noch heut zu Tage in Kraft geblie-<lb/>
ben i&#x017F;t, wie mein Cicerone bezeugte. Die&#x017F;er Cicerone<lb/>
war ein hüb&#x017F;cher, wie gewöhnlich halb nackter Knabe<lb/>
von eilf Jahren, und &#x017F;eine Kleidung ein erwähnungs-<lb/>
werther Echantillon <choice><sic>irla&#x0307;ndi&#x017F;cher</sic><corr>irländi&#x017F;cher</corr></choice> Toilette. Er trug<lb/>
den Leibrock eines erwach&#x017F;enen Mannes, dem, außer<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0214] einem gewaltſam gemachten Einſchnitte gleicht. Die Sage erzählt, daß der junge Rieſe Fian Mac Com- hal — als ſeine Cameraden befürchteten, er ſey noch zu ſchwach zu dem Kriege, in dem ſie eben verwickelt waren — um ihnen eine Probe ſeiner Kraft zu ge- ben, mit ſeinem Schwerte dieſen Felſen ſpaltete, und ſo jedem ferneren Zweifel ein Ende machte. Weiter hin entdeckt man in einem, jenſeits über den See hängenden Felſen, gleich einem ſchwarzen Loch im Geſtein, die Höhle St. Kavins. Hier verbarg ſich der Heilige vor der ihn verfolgenden Liebe der ſchö- nen Königstochter Cathelin, und lebte lange, in tief- ſter Einſamkeit von Wurzeln und Kräutern. In ei- ner verhängnißvollen Stunde entdeckte jedoch die von der Leidenſchaft umhergetriebene Schöne den Flücht- ling, und überraſchte ihn, im Dunkel der Nacht, auf ſeinem Mooslager. Mit ſüßen Küſſen erweckte ſie den ungalanten Heiligen, welcher, ſeine Tugend ver- loren ſehend, ſich kurz entſchloß, und Cathelin über Bord warf, wo in den kalten Fluthen des Sees Liebe und Leben ſie zugleich verließ. Doch fühlte der Mann Gottes nachher ein menſchliches Rühren, und legte einen Zauber über die Gewäſſer, daß fortan Nie- mand mehr ſein Leben in ihnen verlieren ſolle, wel- che Beſchwörung noch heut zu Tage in Kraft geblie- ben iſt, wie mein Cicerone bezeugte. Dieſer Cicerone war ein hübſcher, wie gewöhnlich halb nackter Knabe von eilf Jahren, und ſeine Kleidung ein erwähnungs- werther Echantillon irländiſcher Toilette. Er trug den Leibrock eines erwachſenen Mannes, dem, außer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/214
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/214>, abgerufen am 25.11.2024.