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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

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So schön und herrlich die Worte Moral und Tu-
gend lauten, praktisch heilsam für das irdische Wohl
der menschlichen Gesellschaft wird doch nur die
allgemeine klare Erkenntniß derselben als das Nütz-
liche
seyn. Wer wirklich einsieht, daß der Sündi-
gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum
umhaut, um zu einer einzigen, oft sauren, Frucht
zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verstän-
dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die
süßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt-
seyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden
Erndte verhindert habe -- dessen Tugend wird
wahrscheinlich die sicherste bleiben. Je erleuchteter
also die Menschen im Allgemeinen über das find,
was ihnen frommt, desto frommer, d. h. besser
und milder müssen auch ihre Sitten, unter und ge-
geneinander selbst, werden. Dann wird auch bald
die Wechselwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen --
nämlich aufgeklärtere Individuen eine bessere Ver-
fassung und Regierung gründen, und diese wiederum
die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es
nun endlich dahin, daß eine solche vernunftgemäße
höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer
Zeiten gänzlich befreite, Religionszwang unter die
Absurditäten verwiese, Liebe und Tugend aber, als
eine zur glücklichen Existenz der menschlichen Gesell-
schaft innern und äußern Nothwendigkeit, klar er-
kennen ließe, zugleich aber durch weise und feste po-
litische Institutionen, aus dieser Ueberzeugung ent-
sproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der-

So ſchön und herrlich die Worte Moral und Tu-
gend lauten, praktiſch heilſam für das irdiſche Wohl
der menſchlichen Geſellſchaft wird doch nur die
allgemeine klare Erkenntniß derſelben als das Nütz-
liche
ſeyn. Wer wirklich einſieht, daß der Sündi-
gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum
umhaut, um zu einer einzigen, oft ſauren, Frucht
zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verſtän-
dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die
ſüßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt-
ſeyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden
Erndte verhindert habe — deſſen Tugend wird
wahrſcheinlich die ſicherſte bleiben. Je erleuchteter
alſo die Menſchen im Allgemeinen über das find,
was ihnen frommt, deſto frommer, d. h. beſſer
und milder müſſen auch ihre Sitten, unter und ge-
geneinander ſelbſt, werden. Dann wird auch bald
die Wechſelwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen —
nämlich aufgeklärtere Individuen eine beſſere Ver-
faſſung und Regierung gründen, und dieſe wiederum
die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es
nun endlich dahin, daß eine ſolche vernunftgemäße
höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer
Zeiten gänzlich befreite, Religionszwang unter die
Abſurditäten verwieſe, Liebe und Tugend aber, als
eine zur glücklichen Exiſtenz der menſchlichen Geſell-
ſchaft innern und äußern Nothwendigkeit, klar er-
kennen ließe, zugleich aber durch weiſe und feſte po-
litiſche Inſtitutionen, aus dieſer Ueberzeugung ent-
ſproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der-

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[218/0240] So ſchön und herrlich die Worte Moral und Tu- gend lauten, praktiſch heilſam für das irdiſche Wohl der menſchlichen Geſellſchaft wird doch nur die allgemeine klare Erkenntniß derſelben als das Nütz- liche ſeyn. Wer wirklich einſieht, daß der Sündi- gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum umhaut, um zu einer einzigen, oft ſauren, Frucht zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verſtän- dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die ſüßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt- ſeyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden Erndte verhindert habe — deſſen Tugend wird wahrſcheinlich die ſicherſte bleiben. Je erleuchteter alſo die Menſchen im Allgemeinen über das find, was ihnen frommt, deſto frommer, d. h. beſſer und milder müſſen auch ihre Sitten, unter und ge- geneinander ſelbſt, werden. Dann wird auch bald die Wechſelwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen — nämlich aufgeklärtere Individuen eine beſſere Ver- faſſung und Regierung gründen, und dieſe wiederum die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es nun endlich dahin, daß eine ſolche vernunftgemäße höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer Zeiten gänzlich befreite, Religionszwang unter die Abſurditäten verwieſe, Liebe und Tugend aber, als eine zur glücklichen Exiſtenz der menſchlichen Geſell- ſchaft innern und äußern Nothwendigkeit, klar er- kennen ließe, zugleich aber durch weiſe und feſte po- litiſche Inſtitutionen, aus dieſer Ueberzeugung ent- ſproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der-

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/240>, abgerufen am 22.11.2024.