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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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vielen Hunderten seinesgleichen, und nicht bloß im
Sommer, sondern auch in jeder anderen Jahres¬
zeit, wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten
so deutlich und farbenfrisch als möglich zu Papier
gebracht. Es erübrigte mir also nur noch, auch zu
schildern, wie mein Vater all das Seinige: Pfeife,
Tabakskasten, Zeitung, Amtsblatt an sich nahm und
immer als ein durch Weiberlärm, Dummheit, Gezeter
betäubter, durch feuchte Taschentücher und trockenste
Albernheit aus jedwedem Konzept gebrachter Familien¬
vater, Familienfreund und wohlmeinender Nachbar,
im Sommer die Gartenlaube, im Winter die Familien¬
stube, hinter sich ließ und sich in sein Reich, eine Treppe
hoch, zurückzog und mich gewöhnlich mit sich nahm.
Ich verzichte drauf; aber seinen Griff verspüre ich
heute noch am Oberarm, wie ich mich in diesem
düstern Wind- und Reifmond, mit Mistreß Mungos
Brief vor mir, in jene doch so unschuldige, glück¬
selige, sonnedurchleuchlete Zeit zurückdenke. Dann
aber sehe ich auch zu dem Bilde des alten Herrn
über meinem Schreibtisch unter einigen Gewissens¬
bissen auf und -- möchte das Nachgefühl seiner
grimmigen, aber treuen Faust an meinem Arm
wahrlich nicht missen; auch durch mein ganzes
ferneres Leben.


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vielen Hunderten ſeinesgleichen, und nicht bloß im
Sommer, ſondern auch in jeder anderen Jahres¬
zeit, wenn nicht aktenmäßig, ſo doch aus den Akten
ſo deutlich und farbenfriſch als möglich zu Papier
gebracht. Es erübrigte mir alſo nur noch, auch zu
ſchildern, wie mein Vater all das Seinige: Pfeife,
Tabakskaſten, Zeitung, Amtsblatt an ſich nahm und
immer als ein durch Weiberlärm, Dummheit, Gezeter
betäubter, durch feuchte Taſchentücher und trockenſte
Albernheit aus jedwedem Konzept gebrachter Familien¬
vater, Familienfreund und wohlmeinender Nachbar,
im Sommer die Gartenlaube, im Winter die Familien¬
ſtube, hinter ſich ließ und ſich in ſein Reich, eine Treppe
hoch, zurückzog und mich gewöhnlich mit ſich nahm.
Ich verzichte drauf; aber ſeinen Griff verſpüre ich
heute noch am Oberarm, wie ich mich in dieſem
düſtern Wind- und Reifmond, mit Miſtreß Mungos
Brief vor mir, in jene doch ſo unſchuldige, glück¬
ſelige, ſonnedurchleuchlete Zeit zurückdenke. Dann
aber ſehe ich auch zu dem Bilde des alten Herrn
über meinem Schreibtiſch unter einigen Gewiſſens¬
biſſen auf und — möchte das Nachgefühl ſeiner
grimmigen, aber treuen Fauſt an meinem Arm
wahrlich nicht miſſen; auch durch mein ganzes
ferneres Leben.


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[67/0077] vielen Hunderten ſeinesgleichen, und nicht bloß im Sommer, ſondern auch in jeder anderen Jahres¬ zeit, wenn nicht aktenmäßig, ſo doch aus den Akten ſo deutlich und farbenfriſch als möglich zu Papier gebracht. Es erübrigte mir alſo nur noch, auch zu ſchildern, wie mein Vater all das Seinige: Pfeife, Tabakskaſten, Zeitung, Amtsblatt an ſich nahm und immer als ein durch Weiberlärm, Dummheit, Gezeter betäubter, durch feuchte Taſchentücher und trockenſte Albernheit aus jedwedem Konzept gebrachter Familien¬ vater, Familienfreund und wohlmeinender Nachbar, im Sommer die Gartenlaube, im Winter die Familien¬ ſtube, hinter ſich ließ und ſich in ſein Reich, eine Treppe hoch, zurückzog und mich gewöhnlich mit ſich nahm. Ich verzichte drauf; aber ſeinen Griff verſpüre ich heute noch am Oberarm, wie ich mich in dieſem düſtern Wind- und Reifmond, mit Miſtreß Mungos Brief vor mir, in jene doch ſo unſchuldige, glück¬ ſelige, ſonnedurchleuchlete Zeit zurückdenke. Dann aber ſehe ich auch zu dem Bilde des alten Herrn über meinem Schreibtiſch unter einigen Gewiſſens¬ biſſen auf und — möchte das Nachgefühl ſeiner grimmigen, aber treuen Fauſt an meinem Arm wahrlich nicht miſſen; auch durch mein ganzes ferneres Leben. 5*

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/77>, abgerufen am 29.11.2024.