Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Das Odfeld. Leipzig, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Kopfe und zählte den Glockenklang nach. Er hielt
das Werk in Ordnung und hatte es lange Jahre im
Frieden in Ordnung erhalten. Nun war ihm auch
das ein Trost, daß es ihm jetzt auch im Kriegsgetümmel
nicht aus dem regelmäßigen Gange gekommen war.
Er hatte wohl Recht, sich selber still darob zu loben;
vorzüglich bei seiner jetzigen Lektüre in der Nacht vor
dem Abmarsch des Herzogs Ferdinand von Braunschweig
aus dem Hauptquartier zu Ohr. Der Donator des
Buches würde sich wohl selber über die Stimmungen
verwundert haben, die sein ironisch Geschenke dem alten
Herrn, dem närrischen alten Knaben, dem abgerollten
fünften Rad am Wagen der weiland hohen Schule zu
Amelungsborn in dieser Nacht gab. Je seltsamere,
wunderlichere, geheimnißvollere Beispiele von den
zweyerley Wegen, durch welche Menschen zu einer
Wissenschaft der Stunde ihres Todes zu gelangen pflegen,
der Magister las, desto ruhiger wurde es ihm zu Muthe,
desto mehr befestigte sich in ihm die Gewißheit, daß
ihm in Person heute noch keine Praedictio, kein Prae¬
sagium
zu Theil geworden sei. Durch Gleiches wurde
auch hier Gleiches kurirt und von Stunde zu Stunde
vergaß der Magister mehr und mehr über seiner selt¬
samen Lectüre, über des Iburgischen Schloßpredigers
schrift- und vernunftmäßigen Untersuchungen die eigene
Noth und die der Zeiten.

Um neun Uhr las er und zwar laut, seiner Un¬
ruhe besser Meister zu bleiben:

dem Kopfe und zählte den Glockenklang nach. Er hielt
das Werk in Ordnung und hatte es lange Jahre im
Frieden in Ordnung erhalten. Nun war ihm auch
das ein Troſt, daß es ihm jetzt auch im Kriegsgetümmel
nicht aus dem regelmäßigen Gange gekommen war.
Er hatte wohl Recht, ſich ſelber ſtill darob zu loben;
vorzüglich bei ſeiner jetzigen Lektüre in der Nacht vor
dem Abmarſch des Herzogs Ferdinand von Braunſchweig
aus dem Hauptquartier zu Ohr. Der Donator des
Buches würde ſich wohl ſelber über die Stimmungen
verwundert haben, die ſein ironiſch Geſchenke dem alten
Herrn, dem närriſchen alten Knaben, dem abgerollten
fünften Rad am Wagen der weiland hohen Schule zu
Amelungsborn in dieſer Nacht gab. Je ſeltſamere,
wunderlichere, geheimnißvollere Beiſpiele von den
zweyerley Wegen, durch welche Menſchen zu einer
Wiſſenſchaft der Stunde ihres Todes zu gelangen pflegen,
der Magiſter las, deſto ruhiger wurde es ihm zu Muthe,
deſto mehr befeſtigte ſich in ihm die Gewißheit, daß
ihm in Perſon heute noch keine Praedictio, kein Prae¬
sagium
zu Theil geworden ſei. Durch Gleiches wurde
auch hier Gleiches kurirt und von Stunde zu Stunde
vergaß der Magiſter mehr und mehr über ſeiner ſelt¬
ſamen Lectüre, über des Iburgiſchen Schloßpredigers
ſchrift- und vernunftmäßigen Unterſuchungen die eigene
Noth und die der Zeiten.

Um neun Uhr las er und zwar laut, ſeiner Un¬
ruhe beſſer Meiſter zu bleiben:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0087" n="79"/>
dem Kopfe und zählte den Glockenklang nach. Er hielt<lb/>
das Werk in Ordnung und hatte es lange Jahre im<lb/>
Frieden in Ordnung erhalten. Nun war ihm auch<lb/>
das ein Tro&#x017F;t, daß es ihm jetzt auch im Kriegsgetümmel<lb/>
nicht aus dem regelmäßigen Gange gekommen war.<lb/>
Er hatte wohl Recht, &#x017F;ich &#x017F;elber &#x017F;till darob zu loben;<lb/>
vorzüglich bei &#x017F;einer jetzigen Lektüre in der Nacht vor<lb/>
dem Abmar&#x017F;ch des Herzogs Ferdinand von Braun&#x017F;chweig<lb/>
aus dem Hauptquartier zu Ohr. Der Donator des<lb/>
Buches würde &#x017F;ich wohl &#x017F;elber über die Stimmungen<lb/>
verwundert haben, die &#x017F;ein ironi&#x017F;ch Ge&#x017F;chenke dem alten<lb/>
Herrn, dem närri&#x017F;chen alten Knaben, dem abgerollten<lb/>
fünften Rad am Wagen der weiland hohen Schule zu<lb/>
Amelungsborn in die&#x017F;er Nacht gab. Je &#x017F;elt&#x017F;amere,<lb/>
wunderlichere, geheimnißvollere Bei&#x017F;piele von den<lb/>
zweyerley Wegen, durch welche Men&#x017F;chen zu einer<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der Stunde ihres Todes zu gelangen pflegen,<lb/>
der Magi&#x017F;ter las, de&#x017F;to ruhiger wurde es ihm zu Muthe,<lb/>
de&#x017F;to mehr befe&#x017F;tigte &#x017F;ich in ihm die Gewißheit, daß<lb/>
ihm in Per&#x017F;on heute noch keine <hi rendition="#aq">Praedictio</hi>, kein <hi rendition="#aq">Prae¬<lb/>
sagium</hi> zu Theil geworden &#x017F;ei. Durch Gleiches wurde<lb/>
auch hier Gleiches kurirt und von Stunde zu Stunde<lb/>
vergaß der Magi&#x017F;ter mehr und mehr über &#x017F;einer &#x017F;elt¬<lb/>
&#x017F;amen Lectüre, über des Iburgi&#x017F;chen Schloßpredigers<lb/>
&#x017F;chrift- und vernunftmäßigen Unter&#x017F;uchungen die eigene<lb/>
Noth und die der Zeiten.</p><lb/>
        <p>Um neun Uhr las er und zwar laut, &#x017F;einer Un¬<lb/>
ruhe be&#x017F;&#x017F;er Mei&#x017F;ter zu bleiben:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0087] dem Kopfe und zählte den Glockenklang nach. Er hielt das Werk in Ordnung und hatte es lange Jahre im Frieden in Ordnung erhalten. Nun war ihm auch das ein Troſt, daß es ihm jetzt auch im Kriegsgetümmel nicht aus dem regelmäßigen Gange gekommen war. Er hatte wohl Recht, ſich ſelber ſtill darob zu loben; vorzüglich bei ſeiner jetzigen Lektüre in der Nacht vor dem Abmarſch des Herzogs Ferdinand von Braunſchweig aus dem Hauptquartier zu Ohr. Der Donator des Buches würde ſich wohl ſelber über die Stimmungen verwundert haben, die ſein ironiſch Geſchenke dem alten Herrn, dem närriſchen alten Knaben, dem abgerollten fünften Rad am Wagen der weiland hohen Schule zu Amelungsborn in dieſer Nacht gab. Je ſeltſamere, wunderlichere, geheimnißvollere Beiſpiele von den zweyerley Wegen, durch welche Menſchen zu einer Wiſſenſchaft der Stunde ihres Todes zu gelangen pflegen, der Magiſter las, deſto ruhiger wurde es ihm zu Muthe, deſto mehr befeſtigte ſich in ihm die Gewißheit, daß ihm in Perſon heute noch keine Praedictio, kein Prae¬ sagium zu Theil geworden ſei. Durch Gleiches wurde auch hier Gleiches kurirt und von Stunde zu Stunde vergaß der Magiſter mehr und mehr über ſeiner ſelt¬ ſamen Lectüre, über des Iburgiſchen Schloßpredigers ſchrift- und vernunftmäßigen Unterſuchungen die eigene Noth und die der Zeiten. Um neun Uhr las er und zwar laut, ſeiner Un¬ ruhe beſſer Meiſter zu bleiben:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_odfeld_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_odfeld_1889/87
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Das Odfeld. Leipzig, 1889, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_odfeld_1889/87>, abgerufen am 21.11.2024.