Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.vorschauenden Mutter, und führte die beiden jungen Herzen zusammen, Trost und Lust zum Leben gegenseitig zu geben und zu empfangen. Einst, als der Weißdorn in der Gartenhecke der Silberburg in der Blüte stand, hatten sich die beiden Kinder die Hände unter dem Busch durchgereicht, da sie zu klein waren, um darüber wegzublicken. Nun hatte seit dem glücklichen Frühlingstage der Weißdorn wohl zwölf Mal in seinem luftigen Kleide den abziehenden Winterschnee verspottet; aus den Kindern waren "Leute" geworden, die sich recht gut die Hände über die Hecke reichen konnten. Das Reichskammergericht war von Regensburg nach Wetzlar verlegt, der Friede zu Ryswick geschlossen, der Kurfürst von Brandenburg war König in Preußen geworden; der spanische Erbfolgekrieg hatte seinen Anfang genommen, die Stadt St. Petersburg war gegründet; der Blitz hatte den Brunnenritter auf dem Markt zu Rothenburg zertrümmert, der alte Scharfrichter war gehängt worden von dem neuen, Georg Kindler war mit einer Brustwunde und mit einer Wunde im Arm heimgekehrt aus dem Feldzuge des Prinzen Eugenius am Rhein. Nun ging auch dieser Sommer des Jahres 1704 seinem Ende entgegen, und das enge Leben der kleinen Reichsstadt nahm seinen gewohnten Verlauf. Es wurde mit Pomp das Freischießen gehalten, und der Arm Georg's war um diese Zeit so weit hergestellt, daß der Weibel des Regiments Montecuculi die Pürschbüchse halten konnte. Den Vogel schoß er ab und gewann den vorschauenden Mutter, und führte die beiden jungen Herzen zusammen, Trost und Lust zum Leben gegenseitig zu geben und zu empfangen. Einst, als der Weißdorn in der Gartenhecke der Silberburg in der Blüte stand, hatten sich die beiden Kinder die Hände unter dem Busch durchgereicht, da sie zu klein waren, um darüber wegzublicken. Nun hatte seit dem glücklichen Frühlingstage der Weißdorn wohl zwölf Mal in seinem luftigen Kleide den abziehenden Winterschnee verspottet; aus den Kindern waren „Leute“ geworden, die sich recht gut die Hände über die Hecke reichen konnten. Das Reichskammergericht war von Regensburg nach Wetzlar verlegt, der Friede zu Ryswick geschlossen, der Kurfürst von Brandenburg war König in Preußen geworden; der spanische Erbfolgekrieg hatte seinen Anfang genommen, die Stadt St. Petersburg war gegründet; der Blitz hatte den Brunnenritter auf dem Markt zu Rothenburg zertrümmert, der alte Scharfrichter war gehängt worden von dem neuen, Georg Kindler war mit einer Brustwunde und mit einer Wunde im Arm heimgekehrt aus dem Feldzuge des Prinzen Eugenius am Rhein. Nun ging auch dieser Sommer des Jahres 1704 seinem Ende entgegen, und das enge Leben der kleinen Reichsstadt nahm seinen gewohnten Verlauf. Es wurde mit Pomp das Freischießen gehalten, und der Arm Georg's war um diese Zeit so weit hergestellt, daß der Weibel des Regiments Montecuculi die Pürschbüchse halten konnte. Den Vogel schoß er ab und gewann den <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0043"/> vorschauenden Mutter, und führte die beiden jungen Herzen zusammen, Trost und Lust zum Leben gegenseitig zu geben und zu empfangen. Einst, als der Weißdorn in der Gartenhecke der Silberburg in der Blüte stand, hatten sich die beiden Kinder die Hände unter dem Busch durchgereicht, da sie zu klein waren, um darüber wegzublicken. Nun hatte seit dem glücklichen Frühlingstage der Weißdorn wohl zwölf Mal in seinem luftigen Kleide den abziehenden Winterschnee verspottet; aus den Kindern waren „Leute“ geworden, die sich recht gut die Hände über die Hecke reichen konnten. Das Reichskammergericht war von Regensburg nach Wetzlar verlegt, der Friede zu Ryswick geschlossen, der Kurfürst von Brandenburg war König in Preußen geworden; der spanische Erbfolgekrieg hatte seinen Anfang genommen, die Stadt St. Petersburg war gegründet; der Blitz hatte den Brunnenritter auf dem Markt zu Rothenburg zertrümmert, der alte Scharfrichter war gehängt worden von dem neuen, Georg Kindler war mit einer Brustwunde und mit einer Wunde im Arm heimgekehrt aus dem Feldzuge des Prinzen Eugenius am Rhein.</p><lb/> <p>Nun ging auch dieser Sommer des Jahres 1704 seinem Ende entgegen, und das enge Leben der kleinen Reichsstadt nahm seinen gewohnten Verlauf. Es wurde mit Pomp das Freischießen gehalten, und der Arm Georg's war um diese Zeit so weit hergestellt, daß der Weibel des Regiments Montecuculi die Pürschbüchse halten konnte. Den Vogel schoß er ab und gewann den<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0043]
vorschauenden Mutter, und führte die beiden jungen Herzen zusammen, Trost und Lust zum Leben gegenseitig zu geben und zu empfangen. Einst, als der Weißdorn in der Gartenhecke der Silberburg in der Blüte stand, hatten sich die beiden Kinder die Hände unter dem Busch durchgereicht, da sie zu klein waren, um darüber wegzublicken. Nun hatte seit dem glücklichen Frühlingstage der Weißdorn wohl zwölf Mal in seinem luftigen Kleide den abziehenden Winterschnee verspottet; aus den Kindern waren „Leute“ geworden, die sich recht gut die Hände über die Hecke reichen konnten. Das Reichskammergericht war von Regensburg nach Wetzlar verlegt, der Friede zu Ryswick geschlossen, der Kurfürst von Brandenburg war König in Preußen geworden; der spanische Erbfolgekrieg hatte seinen Anfang genommen, die Stadt St. Petersburg war gegründet; der Blitz hatte den Brunnenritter auf dem Markt zu Rothenburg zertrümmert, der alte Scharfrichter war gehängt worden von dem neuen, Georg Kindler war mit einer Brustwunde und mit einer Wunde im Arm heimgekehrt aus dem Feldzuge des Prinzen Eugenius am Rhein.
Nun ging auch dieser Sommer des Jahres 1704 seinem Ende entgegen, und das enge Leben der kleinen Reichsstadt nahm seinen gewohnten Verlauf. Es wurde mit Pomp das Freischießen gehalten, und der Arm Georg's war um diese Zeit so weit hergestellt, daß der Weibel des Regiments Montecuculi die Pürschbüchse halten konnte. Den Vogel schoß er ab und gewann den
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