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Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Schweige in deinem Schmerze,
Geh vor aus deinem Haus,
Und trag dein armes Herze
An Gottes Herz hinaus.
Weil' nicht im dunkeln Walde,
Zwischen den Tannen nicht;
Ueber die Blumenhalde
Trag deinen Schmerz ins Licht.
Wenn hinter dir versunken,
Was Ohr und Auge bannt,
Dann hält die Seele trunken
Das Firmament umspannt.
Wie aus dem Nebelkleide,
Der Mond sich glänzend ringt,
So aus dem Erdenleide
Aufwärts das Herz sich schwingt.
O Haide, stille Haide,
Wie sehnet sich hinaus
Zu dir das Herz im Leide,
Gefangen Herz im Haus!"

So klagte im Gesänge das schmerzhafte "gefangene Herz" in der Silberburg; dem Lauscher unter dem Fenster war ernst zu Muth geworden; aber die Stimmung dauerte nicht lange. Bald war das höhnische Zucken um den Mund wieder da; Wolf Scheffer flüsterte:

Wie sich das Vögelchen hinaussehnt! Wie es nach der goldenen Freiheit verlangt! Wart', Liebchen, bald sollst du mehr davon haben, als du gebrauchen kannst; die ganze weite Welt soll dir offen stehen; ich will dich nicht halten in der Silberburg.

Schweige in deinem Schmerze,
Geh vor aus deinem Haus,
Und trag dein armes Herze
An Gottes Herz hinaus.
Weil' nicht im dunkeln Walde,
Zwischen den Tannen nicht;
Ueber die Blumenhalde
Trag deinen Schmerz ins Licht.
Wenn hinter dir versunken,
Was Ohr und Auge bannt,
Dann hält die Seele trunken
Das Firmament umspannt.
Wie aus dem Nebelkleide,
Der Mond sich glänzend ringt,
So aus dem Erdenleide
Aufwärts das Herz sich schwingt.
O Haide, stille Haide,
Wie sehnet sich hinaus
Zu dir das Herz im Leide,
Gefangen Herz im Haus!“

So klagte im Gesänge das schmerzhafte “gefangene Herz“ in der Silberburg; dem Lauscher unter dem Fenster war ernst zu Muth geworden; aber die Stimmung dauerte nicht lange. Bald war das höhnische Zucken um den Mund wieder da; Wolf Scheffer flüsterte:

Wie sich das Vögelchen hinaussehnt! Wie es nach der goldenen Freiheit verlangt! Wart', Liebchen, bald sollst du mehr davon haben, als du gebrauchen kannst; die ganze weite Welt soll dir offen stehen; ich will dich nicht halten in der Silberburg.

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[0048] Schweige in deinem Schmerze, Geh vor aus deinem Haus, Und trag dein armes Herze An Gottes Herz hinaus. Weil' nicht im dunkeln Walde, Zwischen den Tannen nicht; Ueber die Blumenhalde Trag deinen Schmerz ins Licht. Wenn hinter dir versunken, Was Ohr und Auge bannt, Dann hält die Seele trunken Das Firmament umspannt. Wie aus dem Nebelkleide, Der Mond sich glänzend ringt, So aus dem Erdenleide Aufwärts das Herz sich schwingt. O Haide, stille Haide, Wie sehnet sich hinaus Zu dir das Herz im Leide, Gefangen Herz im Haus!“ So klagte im Gesänge das schmerzhafte “gefangene Herz“ in der Silberburg; dem Lauscher unter dem Fenster war ernst zu Muth geworden; aber die Stimmung dauerte nicht lange. Bald war das höhnische Zucken um den Mund wieder da; Wolf Scheffer flüsterte: Wie sich das Vögelchen hinaussehnt! Wie es nach der goldenen Freiheit verlangt! Wart', Liebchen, bald sollst du mehr davon haben, als du gebrauchen kannst; die ganze weite Welt soll dir offen stehen; ich will dich nicht halten in der Silberburg.

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_recht_1910/48>, abgerufen am 28.04.2024.