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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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trecken. -- Herre -- Kinderschrieen is ok een Gesang-
bauksversch!" --

Ich nahm den Hut ab und trat unwillkührlich einen
Schritt zurück. Welch' eine wunderbar schöne Predigt
lag in den fünf Worten des alten Weibes! Eine
Schwalbe beschrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem
Neste unter dem niedrigen Dachrande zu, und klammerte
sich, ihre Beute im Schnabel, an die Thür ihrer kleinen
Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitscher der
federlosen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort
mehr sagen. --

"Kinderschrieen is ok een Gesangbaukversch!" murmelte
ich leise, zu meinem Tisch unter der Linde zurückgehend.
Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftasche, schrieb darauf:
Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch, und zog es
mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband.

Träumend schritt ich dann durch die Thür des Dorf-
kirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu
dem offnen Kirchthor (auf dem Lande braucht der Pro-
testantismus seine Kirchen während des Gottesdienstes
noch nicht zu schließen) und lehnte andächtig an der
Esche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der
junge Pastor eine Gellert'sche Fabel in das Gleichniß
aus dem fernen Orient schlang; während die Schwalben
in dem heiligen Gebäude hin und her schossen und ein

trecken. — Herre — Kinderſchrieen is ok een Geſang-
bauksverſch!“ —

Ich nahm den Hut ab und trat unwillkührlich einen
Schritt zurück. Welch’ eine wunderbar ſchöne Predigt
lag in den fünf Worten des alten Weibes! Eine
Schwalbe beſchrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem
Neſte unter dem niedrigen Dachrande zu, und klammerte
ſich, ihre Beute im Schnabel, an die Thür ihrer kleinen
Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitſcher der
federloſen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort
mehr ſagen. —

„Kinderſchrieen is ok een Geſangbaukverſch!“ murmelte
ich leiſe, zu meinem Tiſch unter der Linde zurückgehend.
Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftaſche, ſchrieb darauf:
Kinderſchrieen is ok een Geſangbauksverſch, und zog es
mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband.

Träumend ſchritt ich dann durch die Thür des Dorf-
kirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu
dem offnen Kirchthor (auf dem Lande braucht der Pro-
teſtantismus ſeine Kirchen während des Gottesdienſtes
noch nicht zu ſchließen) und lehnte andächtig an der
Eſche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der
junge Paſtor eine Gellert’ſche Fabel in das Gleichniß
aus dem fernen Orient ſchlang; während die Schwalben
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[222/0232] trecken. — Herre — Kinderſchrieen is ok een Geſang- bauksverſch!“ — Ich nahm den Hut ab und trat unwillkührlich einen Schritt zurück. Welch’ eine wunderbar ſchöne Predigt lag in den fünf Worten des alten Weibes! Eine Schwalbe beſchrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem Neſte unter dem niedrigen Dachrande zu, und klammerte ſich, ihre Beute im Schnabel, an die Thür ihrer kleinen Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitſcher der federloſen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort mehr ſagen. — „Kinderſchrieen is ok een Geſangbaukverſch!“ murmelte ich leiſe, zu meinem Tiſch unter der Linde zurückgehend. Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftaſche, ſchrieb darauf: Kinderſchrieen is ok een Geſangbauksverſch, und zog es mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband. Träumend ſchritt ich dann durch die Thür des Dorf- kirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu dem offnen Kirchthor (auf dem Lande braucht der Pro- teſtantismus ſeine Kirchen während des Gottesdienſtes noch nicht zu ſchließen) und lehnte andächtig an der Eſche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der junge Paſtor eine Gellert’ſche Fabel in das Gleichniß aus dem fernen Orient ſchlang; während die Schwalben in dem heiligen Gebäude hin und her ſchoſſen und ein

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/232>, abgerufen am 21.11.2024.