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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
Hätte man mehr Hochachtung für die Tugend;
rühmte man denjenigen, als einen verehrungswür-
digen Mann, welcher durch seine Vorsorge tausend
Familien glücklich zu machen sucht, welcher an
seinen eignen Vortheil zuletzt, und zuerst an das
Wohl dererjenigen denkt, die seiner Aufsicht em-
pfohlen sind; wüßte die Welt diese Verdienste
nach Würden zu schätzen; So würde Gargil sich
eben so viel Mühe gegeben haben, tugendhaft, mit-
leidig, und großmüthig zu seyn. Es ist allemal
leichter, tugendhaft zu seyn, als durch Laster sich
empor zu schwingen. Die beruhigende Zufrieden-
heit, welche ein Tugendhafter bey seinen Handlun-
gen empfindet, ist der angenehmste Lohn, von wel-
chem der Lasterhafte nichts weis, und dessen Größe
ihm doch, mitten in seiner Pracht, die empfindlich-
sten Vorwürfe macht. Aber Gargil verlangte,
groß und angesehn zu werden; und er kam in eine
Welt, welche nur die blendenden Reichthümer ver-
ehrte, die stillen Tugenden eines redlichen Herzens
aber für bürgerliche Vorzüge hielt. Wer hatte
nun die meiste Schuld? Gargil, oder die Welt?

Diese ungerechten Vorurtheile der Welt sind
Ursache, daß die Tugend allemal schüchtern zurücke
tritt, und in dem Getümmel der reichen Thoren
sich verdrängen lassen muß. Ein Mann, der die
Pflichten gegen Gott, und seinen Fürsten kennt,
der diese Pflichten sorgfältig beobachtet, der sie
andre lehrt, der durch diese Lehren und sein Exem-
pel dem Staate tausend gute Bürger schafft:

Dieser
N 3

Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
Haͤtte man mehr Hochachtung fuͤr die Tugend;
ruͤhmte man denjenigen, als einen verehrungswuͤr-
digen Mann, welcher durch ſeine Vorſorge tauſend
Familien gluͤcklich zu machen ſucht, welcher an
ſeinen eignen Vortheil zuletzt, und zuerſt an das
Wohl dererjenigen denkt, die ſeiner Aufſicht em-
pfohlen ſind; wuͤßte die Welt dieſe Verdienſte
nach Wuͤrden zu ſchaͤtzen; So wuͤrde Gargil ſich
eben ſo viel Muͤhe gegeben haben, tugendhaft, mit-
leidig, und großmuͤthig zu ſeyn. Es iſt allemal
leichter, tugendhaft zu ſeyn, als durch Laſter ſich
empor zu ſchwingen. Die beruhigende Zufrieden-
heit, welche ein Tugendhafter bey ſeinen Handlun-
gen empfindet, iſt der angenehmſte Lohn, von wel-
chem der Laſterhafte nichts weis, und deſſen Groͤße
ihm doch, mitten in ſeiner Pracht, die empfindlich-
ſten Vorwuͤrfe macht. Aber Gargil verlangte,
groß und angeſehn zu werden; und er kam in eine
Welt, welche nur die blendenden Reichthuͤmer ver-
ehrte, die ſtillen Tugenden eines redlichen Herzens
aber fuͤr buͤrgerliche Vorzuͤge hielt. Wer hatte
nun die meiſte Schuld? Gargil, oder die Welt?

Dieſe ungerechten Vorurtheile der Welt ſind
Urſache, daß die Tugend allemal ſchuͤchtern zuruͤcke
tritt, und in dem Getuͤmmel der reichen Thoren
ſich verdraͤngen laſſen muß. Ein Mann, der die
Pflichten gegen Gott, und ſeinen Fuͤrſten kennt,
der dieſe Pflichten ſorgfaͤltig beobachtet, der ſie
andre lehrt, der durch dieſe Lehren und ſein Exem-
pel dem Staate tauſend gute Buͤrger ſchafft:

Dieſer
N 3
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[197/0219] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. Haͤtte man mehr Hochachtung fuͤr die Tugend; ruͤhmte man denjenigen, als einen verehrungswuͤr- digen Mann, welcher durch ſeine Vorſorge tauſend Familien gluͤcklich zu machen ſucht, welcher an ſeinen eignen Vortheil zuletzt, und zuerſt an das Wohl dererjenigen denkt, die ſeiner Aufſicht em- pfohlen ſind; wuͤßte die Welt dieſe Verdienſte nach Wuͤrden zu ſchaͤtzen; So wuͤrde Gargil ſich eben ſo viel Muͤhe gegeben haben, tugendhaft, mit- leidig, und großmuͤthig zu ſeyn. Es iſt allemal leichter, tugendhaft zu ſeyn, als durch Laſter ſich empor zu ſchwingen. Die beruhigende Zufrieden- heit, welche ein Tugendhafter bey ſeinen Handlun- gen empfindet, iſt der angenehmſte Lohn, von wel- chem der Laſterhafte nichts weis, und deſſen Groͤße ihm doch, mitten in ſeiner Pracht, die empfindlich- ſten Vorwuͤrfe macht. Aber Gargil verlangte, groß und angeſehn zu werden; und er kam in eine Welt, welche nur die blendenden Reichthuͤmer ver- ehrte, die ſtillen Tugenden eines redlichen Herzens aber fuͤr buͤrgerliche Vorzuͤge hielt. Wer hatte nun die meiſte Schuld? Gargil, oder die Welt? Dieſe ungerechten Vorurtheile der Welt ſind Urſache, daß die Tugend allemal ſchuͤchtern zuruͤcke tritt, und in dem Getuͤmmel der reichen Thoren ſich verdraͤngen laſſen muß. Ein Mann, der die Pflichten gegen Gott, und ſeinen Fuͤrſten kennt, der dieſe Pflichten ſorgfaͤltig beobachtet, der ſie andre lehrt, der durch dieſe Lehren und ſein Exem- pel dem Staate tauſend gute Buͤrger ſchafft: Dieſer N 3

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/219>, abgerufen am 25.11.2024.