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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Das Märchen vom ersten April.
sehr, als daß ich von dir verlangen sollte, mich zu
lieben. Lebe ohne mich vergnügt.

T' Siamma, welcher Zeit gehabt hatte, sich
von seiner ersten Betäubung zu erhohlen, ward
durch diese Anrede empfindlich gerührt. Er
nahm sie bey der Hand, umarmte sie, und schwur,
sie ewig zu lieben. Die feyerliche Vermählung
ward vollzogen. T' Siamma bewunderte seine
Gemahlinn; aber der Pöbel in Chiekock sang
spöttische Lieder von seiner neuen Königinn. Sie
erfuhr es, und lachte; denn ein Weiser lacht mit-
leidig über den Witz des Pöbels. Sie bemühte
sich, ihrem Gemahle zu gefallen; und dieser war
so weise und gerecht, daß er ihre Verdienste bald
einsah, und sie mit Hochachtung liebte. Sie be-
mühete sich auch, das Volk von ihrer Tugend und
ihrem Verstande zu überführen; und diese Mühe
blieb vergebens, denn sie war häßlich. Lag sie
in dem Tempel vor ihren Göttern, und betete an-
dächtig; so sagten die starken Geister zu Chiekock,
daß sie, wie der fromme Pöbel, andächtig bete,
weil sie nicht vernünftig denken könne. Redete
sie, wie der weiseste Bramine von den Göttern,
von der Natur, und von den heiligsten Pflichten
der Menschen; so nannte man sie eine traurige
Pedantinn. War sie gefällig und freundlich ge-
gen die, mit denen sie sprach; so gab man ihr eine
gemeine und niedrige Aufführung Schuld. War
sie freygebig; so nannte man es eine übelange-
brachte Verschwendung. Mit einem Worte:

Der

Das Maͤrchen vom erſten April.
ſehr, als daß ich von dir verlangen ſollte, mich zu
lieben. Lebe ohne mich vergnuͤgt.

T’ Siamma, welcher Zeit gehabt hatte, ſich
von ſeiner erſten Betaͤubung zu erhohlen, ward
durch dieſe Anrede empfindlich geruͤhrt. Er
nahm ſie bey der Hand, umarmte ſie, und ſchwur,
ſie ewig zu lieben. Die feyerliche Vermaͤhlung
ward vollzogen. T’ Siamma bewunderte ſeine
Gemahlinn; aber der Poͤbel in Chiekock ſang
ſpoͤttiſche Lieder von ſeiner neuen Koͤniginn. Sie
erfuhr es, und lachte; denn ein Weiſer lacht mit-
leidig uͤber den Witz des Poͤbels. Sie bemuͤhte
ſich, ihrem Gemahle zu gefallen; und dieſer war
ſo weiſe und gerecht, daß er ihre Verdienſte bald
einſah, und ſie mit Hochachtung liebte. Sie be-
muͤhete ſich auch, das Volk von ihrer Tugend und
ihrem Verſtande zu uͤberfuͤhren; und dieſe Muͤhe
blieb vergebens, denn ſie war haͤßlich. Lag ſie
in dem Tempel vor ihren Goͤttern, und betete an-
daͤchtig; ſo ſagten die ſtarken Geiſter zu Chiekock,
daß ſie, wie der fromme Poͤbel, andaͤchtig bete,
weil ſie nicht vernuͤnftig denken koͤnne. Redete
ſie, wie der weiſeſte Bramine von den Goͤttern,
von der Natur, und von den heiligſten Pflichten
der Menſchen; ſo nannte man ſie eine traurige
Pedantinn. War ſie gefaͤllig und freundlich ge-
gen die, mit denen ſie ſprach; ſo gab man ihr eine
gemeine und niedrige Auffuͤhrung Schuld. War
ſie freygebig; ſo nannte man es eine uͤbelange-
brachte Verſchwendung. Mit einem Worte:

Der
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[480[478]/0502] Das Maͤrchen vom erſten April. ſehr, als daß ich von dir verlangen ſollte, mich zu lieben. Lebe ohne mich vergnuͤgt. T’ Siamma, welcher Zeit gehabt hatte, ſich von ſeiner erſten Betaͤubung zu erhohlen, ward durch dieſe Anrede empfindlich geruͤhrt. Er nahm ſie bey der Hand, umarmte ſie, und ſchwur, ſie ewig zu lieben. Die feyerliche Vermaͤhlung ward vollzogen. T’ Siamma bewunderte ſeine Gemahlinn; aber der Poͤbel in Chiekock ſang ſpoͤttiſche Lieder von ſeiner neuen Koͤniginn. Sie erfuhr es, und lachte; denn ein Weiſer lacht mit- leidig uͤber den Witz des Poͤbels. Sie bemuͤhte ſich, ihrem Gemahle zu gefallen; und dieſer war ſo weiſe und gerecht, daß er ihre Verdienſte bald einſah, und ſie mit Hochachtung liebte. Sie be- muͤhete ſich auch, das Volk von ihrer Tugend und ihrem Verſtande zu uͤberfuͤhren; und dieſe Muͤhe blieb vergebens, denn ſie war haͤßlich. Lag ſie in dem Tempel vor ihren Goͤttern, und betete an- daͤchtig; ſo ſagten die ſtarken Geiſter zu Chiekock, daß ſie, wie der fromme Poͤbel, andaͤchtig bete, weil ſie nicht vernuͤnftig denken koͤnne. Redete ſie, wie der weiſeſte Bramine von den Goͤttern, von der Natur, und von den heiligſten Pflichten der Menſchen; ſo nannte man ſie eine traurige Pedantinn. War ſie gefaͤllig und freundlich ge- gen die, mit denen ſie ſprach; ſo gab man ihr eine gemeine und niedrige Auffuͤhrung Schuld. War ſie freygebig; ſo nannte man es eine uͤbelange- brachte Verſchwendung. Mit einem Worte: Der

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 480[478]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/502>, abgerufen am 22.11.2024.