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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787.

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Pallast Boccapaduli.
Die früheren
Meister, die
wider das
Uebliche ge-
sündiget ha-
ben, verdie-
nen unsere
Nachsicht.

Das Maaß der Kenntnisse über Geschichte und
Fabel, die unter den Zeitgenossen in Umlauf sind,
bestimmt also die Verpflichtung des Künstlers wider
die hergebrachten Begriffe in dem Zufälligen nicht
anzustoßen: und dies sollten wir nie vergessen, wenn
die Vorwürfe, die wir einem Paolo Veronese, einem
Rembrandt über die Verletzung des Costume nach
unsern Begriffen machen, uns über ihre übrigen
Vorzüge verblenden wollen. Für wen mahlten diese
Künstler? Für Nationen, bei denen über den Trieb
nach klingendem Erwerb, die Bildung des Geistes
größesten Theils vernachläßiget wurde. Diese wur-
den nicht in ihrem Vergnügen gestört, nicht in die
Irre geleitet, wenn sie den edlen Venetianer, den
Portugiesischen Juden bei der Hochzeit von Canaan
statt der wahren Gäste sahen; der größere Haufe
dachte sich die Begebenheit mit Akteurs aus seiner
Zeit, aus seinem Lande. Wie viel läßt sich nicht
selbst für die Anachronismen sagen, die jene früheren
Mahler in der Darstellung geistlicher Geschichten be-
gangen haben! Ein heiliger Franciscus mit dem
Crucifix in der Hand, der eine Mutter Gottes mit
dem Christkinde anbetet, scheint uns eine Absurdität.
Aber zur Zeit des verfertigten Gemähldes war es
keine. Damals waren nicht blos Legenden von der-
gleichen Erscheinungen, welche Heilige gehabt haben
sollten, gäng und gäbe; der Mahler sah auch der-
gleichen Auftritte täglich um sich herum in den da-
maligen Processionen, in den geistlichen Schauspielen
oder Pantomimen. Will man den Mahler, der
so viel mit der Hand arbeitet, klüger wissen als den
Dichter, der seinen Kopf allein braucht?

Eine
Pallaſt Boccapaduli.
Die fruͤheren
Meiſter, die
wider das
Uebliche ge-
ſuͤndiget ha-
ben, verdie-
nen unſere
Nachſicht.

Das Maaß der Kenntniſſe uͤber Geſchichte und
Fabel, die unter den Zeitgenoſſen in Umlauf ſind,
beſtimmt alſo die Verpflichtung des Kuͤnſtlers wider
die hergebrachten Begriffe in dem Zufaͤlligen nicht
anzuſtoßen: und dies ſollten wir nie vergeſſen, wenn
die Vorwuͤrfe, die wir einem Paolo Veroneſe, einem
Rembrandt uͤber die Verletzung des Coſtume nach
unſern Begriffen machen, uns uͤber ihre uͤbrigen
Vorzuͤge verblenden wollen. Fuͤr wen mahlten dieſe
Kuͤnſtler? Fuͤr Nationen, bei denen uͤber den Trieb
nach klingendem Erwerb, die Bildung des Geiſtes
groͤßeſten Theils vernachlaͤßiget wurde. Dieſe wur-
den nicht in ihrem Vergnuͤgen geſtoͤrt, nicht in die
Irre geleitet, wenn ſie den edlen Venetianer, den
Portugieſiſchen Juden bei der Hochzeit von Canaan
ſtatt der wahren Gaͤſte ſahen; der groͤßere Haufe
dachte ſich die Begebenheit mit Akteurs aus ſeiner
Zeit, aus ſeinem Lande. Wie viel laͤßt ſich nicht
ſelbſt fuͤr die Anachroniſmen ſagen, die jene fruͤheren
Mahler in der Darſtellung geiſtlicher Geſchichten be-
gangen haben! Ein heiliger Franciſcus mit dem
Crucifix in der Hand, der eine Mutter Gottes mit
dem Chriſtkinde anbetet, ſcheint uns eine Abſurditaͤt.
Aber zur Zeit des verfertigten Gemaͤhldes war es
keine. Damals waren nicht blos Legenden von der-
gleichen Erſcheinungen, welche Heilige gehabt haben
ſollten, gaͤng und gaͤbe; der Mahler ſah auch der-
gleichen Auftritte taͤglich um ſich herum in den da-
maligen Proceſſionen, in den geiſtlichen Schauſpielen
oder Pantomimen. Will man den Mahler, der
ſo viel mit der Hand arbeitet, kluͤger wiſſen als den
Dichter, der ſeinen Kopf allein braucht?

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[228/0242] Pallaſt Boccapaduli. Das Maaß der Kenntniſſe uͤber Geſchichte und Fabel, die unter den Zeitgenoſſen in Umlauf ſind, beſtimmt alſo die Verpflichtung des Kuͤnſtlers wider die hergebrachten Begriffe in dem Zufaͤlligen nicht anzuſtoßen: und dies ſollten wir nie vergeſſen, wenn die Vorwuͤrfe, die wir einem Paolo Veroneſe, einem Rembrandt uͤber die Verletzung des Coſtume nach unſern Begriffen machen, uns uͤber ihre uͤbrigen Vorzuͤge verblenden wollen. Fuͤr wen mahlten dieſe Kuͤnſtler? Fuͤr Nationen, bei denen uͤber den Trieb nach klingendem Erwerb, die Bildung des Geiſtes groͤßeſten Theils vernachlaͤßiget wurde. Dieſe wur- den nicht in ihrem Vergnuͤgen geſtoͤrt, nicht in die Irre geleitet, wenn ſie den edlen Venetianer, den Portugieſiſchen Juden bei der Hochzeit von Canaan ſtatt der wahren Gaͤſte ſahen; der groͤßere Haufe dachte ſich die Begebenheit mit Akteurs aus ſeiner Zeit, aus ſeinem Lande. Wie viel laͤßt ſich nicht ſelbſt fuͤr die Anachroniſmen ſagen, die jene fruͤheren Mahler in der Darſtellung geiſtlicher Geſchichten be- gangen haben! Ein heiliger Franciſcus mit dem Crucifix in der Hand, der eine Mutter Gottes mit dem Chriſtkinde anbetet, ſcheint uns eine Abſurditaͤt. Aber zur Zeit des verfertigten Gemaͤhldes war es keine. Damals waren nicht blos Legenden von der- gleichen Erſcheinungen, welche Heilige gehabt haben ſollten, gaͤng und gaͤbe; der Mahler ſah auch der- gleichen Auftritte taͤglich um ſich herum in den da- maligen Proceſſionen, in den geiſtlichen Schauſpielen oder Pantomimen. Will man den Mahler, der ſo viel mit der Hand arbeitet, kluͤger wiſſen als den Dichter, der ſeinen Kopf allein braucht? Eine

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/242>, abgerufen am 23.11.2024.