Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Erster Theil: Naturkunde der Liebe. Leipzig, 1798.mit den Worten: Pätus es schmerzt nicht! überreichte! Gesetzt, der Selbstmord wäre eine gewöhnliche Sitte unter einem Volke; gesetzt, die Geistesstärke, welche die Arria zeigte, wäre Folge einer Lage, die wir allgemein, eben so wie sie fühlten; würden wir dieser Handlung noch unsere wonnevolle Bewunderung schenken? Würde sie uns nicht bloß zum Mitleiden oder zum schwachen Beyfall auffordern? Aber auch so wie wir zu ihr stehen; dürfen wir ihre That wohl nach Rücksichten des Nutzens für uns oder für die Gesellschaft, in der wir leben, oder gar nach den Gesetzen der Moral, denen wir alle unterworfen sind, prüfen, und sie dadurch mit uns in eine gemeinschaftliche Lage setzen, ohne unsere Wonne sogleich zerstört zu fühlen? Wenn ich frage: was hilft mir ihre Geistesstärke? was würde aus der bürgerlichen Gesellschaft werden, wenn alle Weiber statt ihre Leiden zu dulden, ihnen durch den Tod ein Ende machen wollten? ist es überhaupt dem Menschen gestattet, über sein Leben zu gebieten? Bey solchen und ähnlichen Fragen, wobey ich die angeschauete Person und ihre Handlung auf die Verhältnisse aller Menschen und meine eigene beziehe, zerstöre ich den Genuß, den die Anschauung unmittelbar mit sich führt, und nur in wenigen Fällen bleibt entweder bloß die Zufriedenheit übrig, welche die praktische Vernunft empfindet, wenn sie ihre Gesetze nothdürftig beobachtet sieht, oder eine Wonne, die von ganz anderer Natur als die der bloßen Beschauung ist. Eine Zufriedenheit, eine Wonne, auf welche dann die gewöhnlichste Tugend mehr Anspruch haben kann, als die Handlung der Arria. Denn gewiß wird der Moralist die Duldung einer Hausfrau, mit den Worten: Pätus es schmerzt nicht! überreichte! Gesetzt, der Selbstmord wäre eine gewöhnliche Sitte unter einem Volke; gesetzt, die Geistesstärke, welche die Arria zeigte, wäre Folge einer Lage, die wir allgemein, eben so wie sie fühlten; würden wir dieser Handlung noch unsere wonnevolle Bewunderung schenken? Würde sie uns nicht bloß zum Mitleiden oder zum schwachen Beyfall auffordern? Aber auch so wie wir zu ihr stehen; dürfen wir ihre That wohl nach Rücksichten des Nutzens für uns oder für die Gesellschaft, in der wir leben, oder gar nach den Gesetzen der Moral, denen wir alle unterworfen sind, prüfen, und sie dadurch mit uns in eine gemeinschaftliche Lage setzen, ohne unsere Wonne sogleich zerstört zu fühlen? Wenn ich frage: was hilft mir ihre Geistesstärke? was würde aus der bürgerlichen Gesellschaft werden, wenn alle Weiber statt ihre Leiden zu dulden, ihnen durch den Tod ein Ende machen wollten? ist es überhaupt dem Menschen gestattet, über sein Leben zu gebieten? Bey solchen und ähnlichen Fragen, wobey ich die angeschauete Person und ihre Handlung auf die Verhältnisse aller Menschen und meine eigene beziehe, zerstöre ich den Genuß, den die Anschauung unmittelbar mit sich führt, und nur in wenigen Fällen bleibt entweder bloß die Zufriedenheit übrig, welche die praktische Vernunft empfindet, wenn sie ihre Gesetze nothdürftig beobachtet sieht, oder eine Wonne, die von ganz anderer Natur als die der bloßen Beschauung ist. Eine Zufriedenheit, eine Wonne, auf welche dann die gewöhnlichste Tugend mehr Anspruch haben kann, als die Handlung der Arria. 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mit den Worten: Pätus es schmerzt nicht! überreichte!
Gesetzt, der Selbstmord wäre eine gewöhnliche Sitte unter einem Volke; gesetzt, die Geistesstärke, welche die Arria zeigte, wäre Folge einer Lage, die wir allgemein, eben so wie sie fühlten; würden wir dieser Handlung noch unsere wonnevolle Bewunderung schenken? Würde sie uns nicht bloß zum Mitleiden oder zum schwachen Beyfall auffordern? Aber auch so wie wir zu ihr stehen; dürfen wir ihre That wohl nach Rücksichten des Nutzens für uns oder für die Gesellschaft, in der wir leben, oder gar nach den Gesetzen der Moral, denen wir alle unterworfen sind, prüfen, und sie dadurch mit uns in eine gemeinschaftliche Lage setzen, ohne unsere Wonne sogleich zerstört zu fühlen? Wenn ich frage: was hilft mir ihre Geistesstärke? was würde aus der bürgerlichen Gesellschaft werden, wenn alle Weiber statt ihre Leiden zu dulden, ihnen durch den Tod ein Ende machen wollten? ist es überhaupt dem Menschen gestattet, über sein Leben zu gebieten? Bey solchen und ähnlichen Fragen, wobey ich die angeschauete Person und ihre Handlung auf die Verhältnisse aller Menschen und meine eigene beziehe, zerstöre ich den Genuß, den die Anschauung unmittelbar mit sich führt, und nur in wenigen Fällen bleibt entweder bloß die Zufriedenheit übrig, welche die praktische Vernunft empfindet, wenn sie ihre Gesetze nothdürftig beobachtet sieht, oder eine Wonne, die von ganz anderer Natur als die der bloßen Beschauung ist. Eine Zufriedenheit, eine Wonne, auf welche dann die gewöhnlichste Tugend mehr Anspruch haben kann, als die Handlung der Arria. Denn gewiß wird der Moralist die Duldung einer Hausfrau,
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