Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.Zweites Buch. Erstes Capitel. sams zum Trotz ward er bald von peinvoller Unruhe er-griffen. Zuweilen studirte er Tag und Nacht und ver- säumte darüber seine canonischen Horen; dann holte er diese wieder mit reuigem Eifer nach; ebenfalls ganze Nächte lang. Zuweilen gieng er, nicht ohne sein Mittagsbrod mitzunehmen, auf ein Dorf hinaus, predigte den Hirten und Bauern und erquickte sich dafür an ihrer ländlichen Musik; dann kam er wieder und schloß sich Tage lang in seine Zelle ein, ohne Jemand sehen zu wollen. Alle frü- heren Zweifel und inneren Bedrängnisse kehrten von Zeit zu Zeit mit doppelter Stärke zurück. Wenn er die Schrift studirte, so stieß er auf Sprüche, 1 Er erzählt das im Sermo die S. Joh. 1516 bei Löscher
Reformationsacta I, p. 258. Zweites Buch. Erſtes Capitel. ſams zum Trotz ward er bald von peinvoller Unruhe er-griffen. Zuweilen ſtudirte er Tag und Nacht und ver- ſäumte darüber ſeine canoniſchen Horen; dann holte er dieſe wieder mit reuigem Eifer nach; ebenfalls ganze Nächte lang. Zuweilen gieng er, nicht ohne ſein Mittagsbrod mitzunehmen, auf ein Dorf hinaus, predigte den Hirten und Bauern und erquickte ſich dafür an ihrer ländlichen Muſik; dann kam er wieder und ſchloß ſich Tage lang in ſeine Zelle ein, ohne Jemand ſehen zu wollen. Alle frü- heren Zweifel und inneren Bedrängniſſe kehrten von Zeit zu Zeit mit doppelter Stärke zurück. Wenn er die Schrift ſtudirte, ſo ſtieß er auf Sprüche, 1 Er erzaͤhlt das im Sermo die S. Joh. 1516 bei Loͤſcher
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Zweites Buch. Erſtes Capitel.
ſams zum Trotz ward er bald von peinvoller Unruhe er-
griffen. Zuweilen ſtudirte er Tag und Nacht und ver-
ſäumte darüber ſeine canoniſchen Horen; dann holte er
dieſe wieder mit reuigem Eifer nach; ebenfalls ganze Nächte
lang. Zuweilen gieng er, nicht ohne ſein Mittagsbrod
mitzunehmen, auf ein Dorf hinaus, predigte den Hirten
und Bauern und erquickte ſich dafür an ihrer ländlichen
Muſik; dann kam er wieder und ſchloß ſich Tage lang in
ſeine Zelle ein, ohne Jemand ſehen zu wollen. Alle frü-
heren Zweifel und inneren Bedrängniſſe kehrten von Zeit
zu Zeit mit doppelter Stärke zurück.
Wenn er die Schrift ſtudirte, ſo ſtieß er auf Sprüche,
die ihm ein Grauen erregten: z. B. Errette mich in deiner
Gerechtigkeit, deiner Wahrheit: „ich gedachte, ſagt er, Ge-
rechtigkeit wäre der grimmige Zorn Gottes, womit er die
Sünder ſtraft:“ in den Briefen Pauli traten ihm Stellen
entgegen, die ihn Tage lang verfolgten. Wohl blieben ihm
die Lehren von der Gnade nicht unbekannt: allein die Be-
hauptung, daß durch dieſelbe die Sünde auf einmal hin-
weggenommen werde, brachte auf ihn, der ſich ſeiner Sünde
nur allzuwohl bewußt blieb, eher einen abſtoßenden, perſön-
lich niederbeugenden Eindruck hervor. Sie machte ihn, wie er
ſagt, das Herz bluten, ihn an Gott verzweifeln. 1 „O meine
Sünde, Sünde, Sünde!“ ſchrieb er an Staupitz, der ſich
dann nicht wenig wunderte, wenn er kam, dem Mönche
Beichte ſaß und dieſer keine Thatſachen zu bekennen wußte.
Es war die Sehnſucht der Creatur nach der Reinheit ihres
1 Er erzaͤhlt das im Sermo die S. Joh. 1516 bei Loͤſcher
Reformationsacta I, p. 258.
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