niss zu den Gegenständen in demselben so richtig gefasst, dass er ohne Augen zu sehen scheint. Doch ist seine äussere Besonnenheit beschränkt auf sol- che Objekte, die in das Gespinnste seiner Phantasie passen; denn sonst würde er nicht nachtwandlen.
Der selige Semler hatte so wenig äussere Besonnenheit, dass man zur Probe in der Nähe seines Studirtisches eine Gardine anbrannte, ohne dass er es bemerkte. Einem Gelehrten sagte sein Bedienter, dass er sich retten möge, weil das Haus in Flammen stehe. Ey, antwortete er ihm, lasse er mich ungeschoren mit dergleichen Ange- legenheiten, von denen er weiss, dass ich sie meiner Frau überlasse. Nicht weniger unbeson- nen war ein anderer, der das weisse Schnupftuch einer Dame, die sich mit ihm unterredete, emsig an den Ort brachte, wohin das Hemde gehört, weil er es für sein Hemde hielt. Der grosse Welt- weise Newton sass in einer Gesellschaft neben ei- nem Frauenzimmer und ergriff, in Gedanken ver- tieft, den Finger derselben, um sich den brennen- den Taback in seiner Pfeife fest zu stopfen. Erst als das Frauenzimmer vor Schmerz zu schreien an- fing, entdeckte er seinen Irrthum *). Ich kenne sagt Ehrhard**) einen gelehrten und vernünfti- gen Professor, bey dem dergleichen Streiche nichts
*)Muratori, 2 Th. 29 S. Tissot sämmtliche Schriften, übersetzt von Kerstens, Leipzig 1784. 5 Th. 500 S.
**)Wagners Beiträge, 1 B. 129 S.
niſs zu den Gegenſtänden in demſelben ſo richtig gefaſst, daſs er ohne Augen zu ſehen ſcheint. Doch iſt ſeine äuſsere Beſonnenheit beſchränkt auf ſol- che Objekte, die in das Geſpinnſte ſeiner Phantaſie paſſen; denn ſonſt würde er nicht nachtwandlen.
Der ſelige Semler hatte ſo wenig äuſsere Beſonnenheit, daſs man zur Probe in der Nähe ſeines Studirtiſches eine Gardine anbrannte, ohne daſs er es bemerkte. Einem Gelehrten ſagte ſein Bedienter, daſs er ſich retten möge, weil das Haus in Flammen ſtehe. Ey, antwortete er ihm, laſſe er mich ungeſchoren mit dergleichen Ange- legenheiten, von denen er weiſs, daſs ich ſie meiner Frau überlaſſe. Nicht weniger unbeſon- nen war ein anderer, der das weiſse Schnupftuch einer Dame, die ſich mit ihm unterredete, emſig an den Ort brachte, wohin das Hemde gehört, weil er es für ſein Hemde hielt. Der groſse Welt- weiſe Newton ſaſs in einer Geſellſchaft neben ei- nem Frauenzimmer und ergriff, in Gedanken ver- tieft, den Finger derſelben, um ſich den brennen- den Taback in ſeiner Pfeife feſt zu ſtopfen. Erſt als das Frauenzimmer vor Schmerz zu ſchreien an- fing, entdeckte er ſeinen Irrthum *). Ich kenne ſagt Ehrhard**) einen gelehrten und vernünfti- gen Profeſſor, bey dem dergleichen Streiche nichts
*)Muratori, 2 Th. 29 S. Tiſſot ſämmtliche Schriften, überſetzt von Kerſtens, Leipzig 1784. 5 Th. 500 S.
**)Wagners Beiträge, 1 B. 129 S.
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niſs zu den Gegenſtänden in demſelben ſo richtig
gefaſst, daſs er ohne Augen zu ſehen ſcheint. Doch
iſt ſeine äuſsere Beſonnenheit beſchränkt auf ſol-
che Objekte, die in das Geſpinnſte ſeiner Phantaſie
paſſen; denn ſonſt würde er nicht nachtwandlen.
Der ſelige Semler hatte ſo wenig äuſsere
Beſonnenheit, daſs man zur Probe in der Nähe
ſeines Studirtiſches eine Gardine anbrannte, ohne
daſs er es bemerkte. Einem Gelehrten ſagte ſein
Bedienter, daſs er ſich retten möge, weil das
Haus in Flammen ſtehe. Ey, antwortete er ihm,
laſſe er mich ungeſchoren mit dergleichen Ange-
legenheiten, von denen er weiſs, daſs ich ſie
meiner Frau überlaſſe. Nicht weniger unbeſon-
nen war ein anderer, der das weiſse Schnupftuch
einer Dame, die ſich mit ihm unterredete, emſig
an den Ort brachte, wohin das Hemde gehört,
weil er es für ſein Hemde hielt. Der groſse Welt-
weiſe Newton ſaſs in einer Geſellſchaft neben ei-
nem Frauenzimmer und ergriff, in Gedanken ver-
tieft, den Finger derſelben, um ſich den brennen-
den Taback in ſeiner Pfeife feſt zu ſtopfen. Erſt als
das Frauenzimmer vor Schmerz zu ſchreien an-
fing, entdeckte er ſeinen Irrthum *). Ich kenne
ſagt Ehrhard **) einen gelehrten und vernünfti-
gen Profeſſor, bey dem dergleichen Streiche nichts
*) Muratori, 2 Th. 29 S. Tiſſot ſämmtliche
Schriften, überſetzt von Kerſtens, Leipzig 1784.
5 Th. 500 S.
**) Wagners Beiträge, 1 B. 129 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/110>, abgerufen am 23.11.2024.
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