Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Gemeingefühl ist gleichsam ein Mittelding
zwischen dem äussern und innern Sinne, welches
den Körper zwar als etwas Aeusseres, aber ihn
auch als unseren Körper, und seine Zustände, als
die unsrigen vorstellt. Durch den innern Sinn
schaun wir unsere Zustände, die nemlich die Ob-
jekte desselben sind, unsere Vorstellungen, Ge-
fühle, Begierden und Leidenschaften an, wir
schaun sie in der Zeit an, und stellen uns durch
ihn, als selbst afficirt von unsern eignen Verände-
rungen, vor. Durch ihn gelangen wir zur An-
schauung unseres eigenen Ichs, also zum Selbst-
bewusstseyn, indem wir uns als das Subject
aller Veränderungen in uns denken. Die Reize
welche ihn erregen, sind weit zarter, als die
körperlichen Reize des äusseren Sinnes. Daher
setzen sie auch ein leiseres Gefühl voraus, wenn
sie zum klaren Bewusstseyn gelangen sollen;
daher kömmt der innere Sinn weit später zur
Thätigkeit, als der äussere. Der Verstand
bringt aus dem Vorrathe vorhandener Vorstellun-
gen, als aus seiner Materie zum Denken, neue
hervor. Er wirkt in diesem Geschäfft nach einer
bestimmten Regel, die wir die Form des Den-
kens nennen, vermittelst welcher er den mannich-
faltigen Stoff zur Einheit verknüpft, Begriffe,
Urtheile und Schlüsse bildet.

Unter die reproduktiven Kräfte des
Vorstellungsvermögens gehören die Einbil-
dungskraft
und das Gedächtniss. Dies

L 2

Das Gemeingefühl iſt gleichſam ein Mittelding
zwiſchen dem äuſsern und innern Sinne, welches
den Körper zwar als etwas Aeuſseres, aber ihn
auch als unſeren Körper, und ſeine Zuſtände, als
die unſrigen vorſtellt. Durch den innern Sinn
ſchaun wir unſere Zuſtände, die nemlich die Ob-
jekte deſſelben ſind, unſere Vorſtellungen, Ge-
fühle, Begierden und Leidenſchaften an, wir
ſchaun ſie in der Zeit an, und ſtellen uns durch
ihn, als ſelbſt afficirt von unſern eignen Verände-
rungen, vor. Durch ihn gelangen wir zur An-
ſchauung unſeres eigenen Ichs, alſo zum Selbſt-
bewuſstſeyn, indem wir uns als das Subject
aller Veränderungen in uns denken. Die Reize
welche ihn erregen, ſind weit zarter, als die
körperlichen Reize des äuſseren Sinnes. Daher
ſetzen ſie auch ein leiſeres Gefühl voraus, wenn
ſie zum klaren Bewuſstſeyn gelangen ſollen;
daher kömmt der innere Sinn weit ſpäter zur
Thätigkeit, als der äuſsere. Der Verſtand
bringt aus dem Vorrathe vorhandener Vorſtellun-
gen, als aus ſeiner Materie zum Denken, neue
hervor. Er wirkt in dieſem Geſchäfft nach einer
beſtimmten Regel, die wir die Form des Den-
kens nennen, vermittelſt welcher er den mannich-
faltigen Stoff zur Einheit verknüpft, Begriffe,
Urtheile und Schlüſſe bildet.

Unter die reproduktiven Kräfte des
Vorſtellungsvermögens gehören die Einbil-
dungskraft
und das Gedächtniſs. Dies

L 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0168" n="163"/>
Das Gemeingefühl i&#x017F;t gleich&#x017F;am ein Mittelding<lb/>
zwi&#x017F;chen dem äu&#x017F;sern und innern Sinne, welches<lb/>
den Körper zwar als etwas Aeu&#x017F;seres, aber ihn<lb/>
auch als un&#x017F;eren Körper, und &#x017F;eine Zu&#x017F;tände, als<lb/>
die un&#x017F;rigen vor&#x017F;tellt. Durch den <hi rendition="#g">innern Sinn</hi><lb/>
&#x017F;chaun wir un&#x017F;ere Zu&#x017F;tände, die nemlich die Ob-<lb/>
jekte de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;ind, un&#x017F;ere Vor&#x017F;tellungen, Ge-<lb/>
fühle, Begierden und Leiden&#x017F;chaften an, wir<lb/>
&#x017F;chaun &#x017F;ie in der Zeit an, und &#x017F;tellen uns durch<lb/>
ihn, als &#x017F;elb&#x017F;t afficirt von un&#x017F;ern eignen Verände-<lb/>
rungen, vor. Durch ihn gelangen wir zur An-<lb/>
&#x017F;chauung un&#x017F;eres eigenen Ichs, al&#x017F;o zum Selb&#x017F;t-<lb/>
bewu&#x017F;st&#x017F;eyn, indem wir uns als das Subject<lb/>
aller Veränderungen in uns denken. Die Reize<lb/>
welche ihn erregen, &#x017F;ind weit zarter, als die<lb/>
körperlichen Reize des äu&#x017F;seren Sinnes. Daher<lb/>
&#x017F;etzen &#x017F;ie auch ein lei&#x017F;eres Gefühl voraus, wenn<lb/>
&#x017F;ie zum klaren Bewu&#x017F;st&#x017F;eyn gelangen &#x017F;ollen;<lb/>
daher kömmt der innere Sinn weit &#x017F;päter zur<lb/>
Thätigkeit, als der äu&#x017F;sere. Der <hi rendition="#g">Ver&#x017F;tand</hi><lb/>
bringt aus dem Vorrathe vorhandener Vor&#x017F;tellun-<lb/>
gen, als aus &#x017F;einer <hi rendition="#g">Materie</hi> zum Denken, neue<lb/>
hervor. Er wirkt in die&#x017F;em Ge&#x017F;chäfft nach einer<lb/>
be&#x017F;timmten Regel, die wir die <hi rendition="#g">Form</hi> des Den-<lb/>
kens nennen, vermittel&#x017F;t welcher er den mannich-<lb/>
faltigen Stoff zur Einheit verknüpft, Begriffe,<lb/>
Urtheile und Schlü&#x017F;&#x017F;e bildet.</p><lb/>
          <p>Unter die <hi rendition="#g">reproduktiven</hi> Kräfte des<lb/>
Vor&#x017F;tellungsvermögens gehören die <hi rendition="#g">Einbil-<lb/>
dungskraft</hi> und das <hi rendition="#g">Gedächtni&#x017F;s</hi>. Dies<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 2</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[163/0168] Das Gemeingefühl iſt gleichſam ein Mittelding zwiſchen dem äuſsern und innern Sinne, welches den Körper zwar als etwas Aeuſseres, aber ihn auch als unſeren Körper, und ſeine Zuſtände, als die unſrigen vorſtellt. Durch den innern Sinn ſchaun wir unſere Zuſtände, die nemlich die Ob- jekte deſſelben ſind, unſere Vorſtellungen, Ge- fühle, Begierden und Leidenſchaften an, wir ſchaun ſie in der Zeit an, und ſtellen uns durch ihn, als ſelbſt afficirt von unſern eignen Verände- rungen, vor. Durch ihn gelangen wir zur An- ſchauung unſeres eigenen Ichs, alſo zum Selbſt- bewuſstſeyn, indem wir uns als das Subject aller Veränderungen in uns denken. Die Reize welche ihn erregen, ſind weit zarter, als die körperlichen Reize des äuſseren Sinnes. Daher ſetzen ſie auch ein leiſeres Gefühl voraus, wenn ſie zum klaren Bewuſstſeyn gelangen ſollen; daher kömmt der innere Sinn weit ſpäter zur Thätigkeit, als der äuſsere. Der Verſtand bringt aus dem Vorrathe vorhandener Vorſtellun- gen, als aus ſeiner Materie zum Denken, neue hervor. Er wirkt in dieſem Geſchäfft nach einer beſtimmten Regel, die wir die Form des Den- kens nennen, vermittelſt welcher er den mannich- faltigen Stoff zur Einheit verknüpft, Begriffe, Urtheile und Schlüſſe bildet. Unter die reproduktiven Kräfte des Vorſtellungsvermögens gehören die Einbil- dungskraft und das Gedächtniſs. Dies L 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/168
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/168>, abgerufen am 09.11.2024.