stände bezieht*), von deren Daseyn der Kranke nicht zu überzeugen ist, und die daher die Freiheit feines Be- gehrungsvermögens beschränkt, und dasselbe gezwungen, seiner fixen Idee gemäss, bestimmt. Beide Merkmale, fixe Ideen und subjektive Ueberzeugung, dass der Wahn Wahrheit sey, gehören wesentlich zur Charakteristik dieser Krankheit. Denn es giebt Fälle fixirter Ideen ohne Wahnsinn. Herr Jör- dens**) konnte ein ganzes Jahr lang den Gedan- ken nicht loss werden, dass er am Schlage sterben werde. Diese Idee quälte ihn Tag und Nacht. Er konnte davon nicht reden, das Wort nicht einmal aussprechen. Ein eiskalter Schauder er- griff ihn, wenn in Gesellschaften von dieser Krankheit geredet wurde. Ein Prediger konnte sich des Gedankens nicht erwehren, über die Kanzel hin ins Auditorium zu springen. Er durf- te deswegen nicht predigen. Andere können die Idee nicht losswerden, ein Kind zum Fenster hinauszuwerfen oder ein Messer zu ergreifen und sich oder andere zu ermorden. Sie sehn es noch ein, dass ihre Idee ohne Vernunft sey, und die Ausführung derselben sie unglücklich machen werde. Doch fühlen sie einen blinden Drang,
*) Melancholia morbus, in quo aeger delirat, eidem fere et uni semper cogitationi defixus. Boerhaave Aphor. §. 1089.
**)Moritz Magazin, 1. B. 1. Heft, 85 S.
ſtände bezieht*), von deren Daſeyn der Kranke nicht zu überzeugen iſt, und die daher die Freiheit feines Be- gehrungsvermögens beſchränkt, und daſſelbe gezwungen, ſeiner fixen Idee gemäſs, beſtimmt. Beide Merkmale, fixe Ideen und ſubjektive Ueberzeugung, daſs der Wahn Wahrheit ſey, gehören weſentlich zur Charakteriſtik dieſer Krankheit. Denn es giebt Fälle fixirter Ideen ohne Wahnſinn. Herr Jör- dens**) konnte ein ganzes Jahr lang den Gedan- ken nicht loſs werden, daſs er am Schlage ſterben werde. Dieſe Idee quälte ihn Tag und Nacht. Er konnte davon nicht reden, das Wort nicht einmal ausſprechen. Ein eiskalter Schauder er- griff ihn, wenn in Geſellſchaften von dieſer Krankheit geredet wurde. Ein Prediger konnte ſich des Gedankens nicht erwehren, über die Kanzel hin ins Auditorium zu ſpringen. Er durf- te deswegen nicht predigen. Andere können die Idee nicht loſswerden, ein Kind zum Fenſter hinauszuwerfen oder ein Meſſer zu ergreifen und ſich oder andere zu ermorden. Sie ſehn es noch ein, daſs ihre Idee ohne Vernunft ſey, und die Ausführung derſelben ſie unglücklich machen werde. Doch fühlen ſie einen blinden Drang,
*) Melancholia morbus, in quo aeger delirat, eidem fere et uni ſemper cogitationi defixus. Boerhaave Aphor. §. 1089.
**)Moritz Magazin, 1. B. 1. Heft, 85 S.
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der Kranke nicht zu überzeugen iſt,
und die daher die Freiheit feines Be-
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daſſelbe gezwungen, ſeiner fixen Idee
gemäſs, beſtimmt. Beide Merkmale, fixe
Ideen und ſubjektive Ueberzeugung, daſs der
Wahn Wahrheit ſey, gehören weſentlich zur
Charakteriſtik dieſer Krankheit. Denn es giebt
Fälle fixirter Ideen ohne Wahnſinn. Herr Jör-
dens **) konnte ein ganzes Jahr lang den Gedan-
ken nicht loſs werden, daſs er am Schlage ſterben
werde. Dieſe Idee quälte ihn Tag und Nacht.
Er konnte davon nicht reden, das Wort nicht
einmal ausſprechen. Ein eiskalter Schauder er-
griff ihn, wenn in Geſellſchaften von dieſer
Krankheit geredet wurde. Ein Prediger konnte
ſich des Gedankens nicht erwehren, über die
Kanzel hin ins Auditorium zu ſpringen. Er durf-
te deswegen nicht predigen. Andere können die
Idee nicht loſswerden, ein Kind zum Fenſter
hinauszuwerfen oder ein Meſſer zu ergreifen und
ſich oder andere zu ermorden. Sie ſehn es noch
ein, daſs ihre Idee ohne Vernunft ſey, und die
Ausführung derſelben ſie unglücklich machen
werde. Doch fühlen ſie einen blinden Drang,
*) Melancholia morbus, in quo aeger delirat,
eidem fere et uni ſemper cogitationi defixus.
Boerhaave Aphor. §. 1089.
**) Moritz Magazin, 1. B. 1. Heft, 85 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/313>, abgerufen am 21.11.2024.
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