mehr oder weniger den freien Gebrauch seiner Seelenkräfte; er urtheilt zuweilen scharf und rich- tig über Dinge, die mit seinem Wahnsinn in kei- ner Verbindung stehn oder handelt und urtheilt der fixen Idee consequent. Ein Wahnsinniger bil- dete sich ein, eine Quaterne im Lotto gewonnen zu haben, die ihm seine Frau vorenthalte. Er miss- handelte sie aufs grausamste und als er darüber zur Rede gestellt wurde, antwortete er gelassen, dass er erst alle Gründe der Vernunft und alle Mittel der Güte, aber umsonst, versucht habe, sie zum Geständniss zu bringen. Es sey ihm da- her nicht zuzurechnen, dass er zuletzt zu harten Mitteln habe greifen müssen *). Ein Mann, des- sen bereits oben **) gedacht ist, der aus Furcht vor Meuchelmord seines eingebildeten Feindes sich selbst das Leben nehmen wollte, vertheidigte seine Grille, dass ihm nichts entgegengestellt werden konnte. Er bewies aus dem Mangel des Widerspruchs in ihr, dass sie möglich sey, durch viele Thatsachen aus der alten und neuen Ge- schichte, dass sie wirklich sich ereigne. Dass ihm endlich dieser Tod bevorstehe, entwickelte er nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und sei- ner näheren Bekanntschaft mit dem Charakter sei-
*)Ehrhard (Wagner I, 122.) erzählt auch ein Beispiel von einer Person, die durch das Lotto verrückt wurde. Es bringt daher die Menschen nicht bloss um ihr Geld und um ihre Moralität, sondern auch um ihren Verstand.
**) p. 284.
mehr oder weniger den freien Gebrauch ſeiner Seelenkräfte; er urtheilt zuweilen ſcharf und rich- tig über Dinge, die mit ſeinem Wahnſinn in kei- ner Verbindung ſtehn oder handelt und urtheilt der fixen Idee conſequent. Ein Wahnſinniger bil- dete ſich ein, eine Quaterne im Lotto gewonnen zu haben, die ihm ſeine Frau vorenthalte. Er miſs- handelte ſie aufs grauſamſte und als er darüber zur Rede geſtellt wurde, antwortete er gelaſſen, daſs er erſt alle Gründe der Vernunft und alle Mittel der Güte, aber umſonſt, verſucht habe, ſie zum Geſtändniſs zu bringen. Es ſey ihm da- her nicht zuzurechnen, daſs er zuletzt zu harten Mitteln habe greifen müſſen *). Ein Mann, deſ- ſen bereits oben **) gedacht iſt, der aus Furcht vor Meuchelmord ſeines eingebildeten Feindes ſich ſelbſt das Leben nehmen wollte, vertheidigte ſeine Grille, daſs ihm nichts entgegengeſtellt werden konnte. Er bewies aus dem Mangel des Widerſpruchs in ihr, daſs ſie möglich ſey, durch viele Thatſachen aus der alten und neuen Ge- ſchichte, daſs ſie wirklich ſich ereigne. Daſs ihm endlich dieſer Tod bevorſtehe, entwickelte er nach den Regeln der Wahrſcheinlichkeit und ſei- ner näheren Bekanntſchaft mit dem Charakter ſei-
*)Ehrhard (Wagner I, 122.) erzählt auch ein Beiſpiel von einer Perſon, die durch das Lotto verrückt wurde. Es bringt daher die Menſchen nicht bloſs um ihr Geld und um ihre Moralität, ſondern auch um ihren Verſtand.
**) p. 284.
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mehr oder weniger den freien Gebrauch ſeiner
Seelenkräfte; er urtheilt zuweilen ſcharf und rich-
tig über Dinge, die mit ſeinem Wahnſinn in kei-
ner Verbindung ſtehn oder handelt und urtheilt
der fixen Idee conſequent. Ein Wahnſinniger bil-
dete ſich ein, eine Quaterne im Lotto gewonnen zu
haben, die ihm ſeine Frau vorenthalte. Er miſs-
handelte ſie aufs grauſamſte und als er darüber
zur Rede geſtellt wurde, antwortete er gelaſſen,
daſs er erſt alle Gründe der Vernunft und alle
Mittel der Güte, aber umſonſt, verſucht habe,
ſie zum Geſtändniſs zu bringen. Es ſey ihm da-
her nicht zuzurechnen, daſs er zuletzt zu harten
Mitteln habe greifen müſſen *). Ein Mann, deſ-
ſen bereits oben **) gedacht iſt, der aus Furcht
vor Meuchelmord ſeines eingebildeten Feindes
ſich ſelbſt das Leben nehmen wollte, vertheidigte
ſeine Grille, daſs ihm nichts entgegengeſtellt
werden konnte. Er bewies aus dem Mangel des
Widerſpruchs in ihr, daſs ſie möglich ſey, durch
viele Thatſachen aus der alten und neuen Ge-
ſchichte, daſs ſie wirklich ſich ereigne. Daſs ihm
endlich dieſer Tod bevorſtehe, entwickelte er
nach den Regeln der Wahrſcheinlichkeit und ſei-
ner näheren Bekanntſchaft mit dem Charakter ſei-
*) Ehrhard (Wagner I, 122.) erzählt auch ein
Beiſpiel von einer Perſon, die durch das Lotto
verrückt wurde. Es bringt daher die Menſchen
nicht bloſs um ihr Geld und um ihre Moralität,
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**) p. 284.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/320>, abgerufen am 22.11.2024.
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