gedrungne Object für Wahrheit zu halten, und in diesem Augenblick ist sie verrückt. Der Mensch hat eine natürliche Anlage zu dieser Krankheit, weil er schwerlich auch im gesunden Zustande ganz frey von fixen Ideen ist, die vor dem Richterstuhl der unbedingten Vernunft nicht passiren. Er lässt sie als Axiome stehn, ohne über ihre Haltbarkeit zu reflectiren, aus Gewohnheit, Bequemlichkeit, Schwäche des Alters oder aus überwiegender Stärke des Gefühlsvermögens und der Phantasie im Verhältniss zur Vernunft. Es giebt Arten der Schwärmerey, die das Bürger- recht haben, weil sie zu grossen Unternehmun- gen anfeuern. Dem Nachruhm, welchen wir mit dem Leben erkaufen, kann nicht sowohl die Vernunft, als vielmehr unser Gefühl huldigen. Denn durch das Mittel, wodurch wir ihn erkau- fen, verlieren wir den Genuss des erworbnen Guts. Daher suchten auch die Republiken der Vorzeit nicht sowohl durch Vernunftgründe als vielmehr durch die fixe Idee des Verdienstes um das Vaterland ihre Bürger für die öffentliche Wohlfahrt zu gewinnen. Fränklin glaubte an den prophetischen Geist seiner Träume *) und Schwammerdam verbrannte einen Theil sei- ner Manuskripte, weil er Gott durch die zu ge- naue Untersuchung seiner Werke zu beleidigen
fürch-
*)Cabanis l. c. T. II. 547.
gedrungne Object für Wahrheit zu halten, und in dieſem Augenblick iſt ſie verrückt. Der Menſch hat eine natürliche Anlage zu dieſer Krankheit, weil er ſchwerlich auch im geſunden Zuſtande ganz frey von fixen Ideen iſt, die vor dem Richterſtuhl der unbedingten Vernunft nicht paſſiren. Er läſst ſie als Axiome ſtehn, ohne über ihre Haltbarkeit zu reflectiren, aus Gewohnheit, Bequemlichkeit, Schwäche des Alters oder aus überwiegender Stärke des Gefühlsvermögens und der Phantaſie im Verhältniſs zur Vernunft. Es giebt Arten der Schwärmerey, die das Bürger- recht haben, weil ſie zu groſsen Unternehmun- gen anfeuern. Dem Nachruhm, welchen wir mit dem Leben erkaufen, kann nicht ſowohl die Vernunft, als vielmehr unſer Gefühl huldigen. Denn durch das Mittel, wodurch wir ihn erkau- fen, verlieren wir den Genuſs des erworbnen Guts. Daher ſuchten auch die Republiken der Vorzeit nicht ſowohl durch Vernunftgründe als vielmehr durch die fixe Idee des Verdienſtes um das Vaterland ihre Bürger für die öffentliche Wohlfahrt zu gewinnen. Fränklin glaubte an den prophetiſchen Geiſt ſeiner Träume *) und Schwammerdam verbrannte einen Theil ſei- ner Manuſkripte, weil er Gott durch die zu ge- naue Unterſuchung ſeiner Werke zu beleidigen
fürch-
*)Cabanis l. c. T. II. 547.
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gedrungne Object für Wahrheit zu halten, und
in dieſem Augenblick iſt ſie verrückt. Der
Menſch hat eine natürliche Anlage zu dieſer
Krankheit, weil er ſchwerlich auch im geſunden
Zuſtande ganz frey von fixen Ideen iſt, die vor
dem Richterſtuhl der unbedingten Vernunft nicht
paſſiren. Er läſst ſie als Axiome ſtehn, ohne über
ihre Haltbarkeit zu reflectiren, aus Gewohnheit,
Bequemlichkeit, Schwäche des Alters oder aus
überwiegender Stärke des Gefühlsvermögens und
der Phantaſie im Verhältniſs zur Vernunft. Es
giebt Arten der Schwärmerey, die das Bürger-
recht haben, weil ſie zu groſsen Unternehmun-
gen anfeuern. Dem Nachruhm, welchen wir
mit dem Leben erkaufen, kann nicht ſowohl die
Vernunft, als vielmehr unſer Gefühl huldigen.
Denn durch das Mittel, wodurch wir ihn erkau-
fen, verlieren wir den Genuſs des erworbnen
Guts. Daher ſuchten auch die Republiken der
Vorzeit nicht ſowohl durch Vernunftgründe als
vielmehr durch die fixe Idee des Verdienſtes um
das Vaterland ihre Bürger für die öffentliche
Wohlfahrt zu gewinnen. Fränklin glaubte an
den prophetiſchen Geiſt ſeiner Träume *) und
Schwammerdam verbrannte einen Theil ſei-
ner Manuſkripte, weil er Gott durch die zu ge-
naue Unterſuchung ſeiner Werke zu beleidigen
fürch-
*) Cabanis l. c. T. II. 547.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/325>, abgerufen am 22.11.2024.
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