Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

gedrungne Object für Wahrheit zu halten, und
in diesem Augenblick ist sie verrückt. Der
Mensch hat eine natürliche Anlage zu dieser
Krankheit, weil er schwerlich auch im gesunden
Zustande ganz frey von fixen Ideen ist, die vor
dem Richterstuhl der unbedingten Vernunft nicht
passiren. Er lässt sie als Axiome stehn, ohne über
ihre Haltbarkeit zu reflectiren, aus Gewohnheit,
Bequemlichkeit, Schwäche des Alters oder aus
überwiegender Stärke des Gefühlsvermögens und
der Phantasie im Verhältniss zur Vernunft. Es
giebt Arten der Schwärmerey, die das Bürger-
recht haben, weil sie zu grossen Unternehmun-
gen anfeuern. Dem Nachruhm, welchen wir
mit dem Leben erkaufen, kann nicht sowohl die
Vernunft, als vielmehr unser Gefühl huldigen.
Denn durch das Mittel, wodurch wir ihn erkau-
fen, verlieren wir den Genuss des erworbnen
Guts. Daher suchten auch die Republiken der
Vorzeit nicht sowohl durch Vernunftgründe als
vielmehr durch die fixe Idee des Verdienstes um
das Vaterland ihre Bürger für die öffentliche
Wohlfahrt zu gewinnen. Fränklin glaubte an
den prophetischen Geist seiner Träume *) und
Schwammerdam verbrannte einen Theil sei-
ner Manuskripte, weil er Gott durch die zu ge-
naue Untersuchung seiner Werke zu beleidigen

fürch-
*) Cabanis l. c. T. II. 547.

gedrungne Object für Wahrheit zu halten, und
in dieſem Augenblick iſt ſie verrückt. Der
Menſch hat eine natürliche Anlage zu dieſer
Krankheit, weil er ſchwerlich auch im geſunden
Zuſtande ganz frey von fixen Ideen iſt, die vor
dem Richterſtuhl der unbedingten Vernunft nicht
paſſiren. Er läſst ſie als Axiome ſtehn, ohne über
ihre Haltbarkeit zu reflectiren, aus Gewohnheit,
Bequemlichkeit, Schwäche des Alters oder aus
überwiegender Stärke des Gefühlsvermögens und
der Phantaſie im Verhältniſs zur Vernunft. Es
giebt Arten der Schwärmerey, die das Bürger-
recht haben, weil ſie zu groſsen Unternehmun-
gen anfeuern. Dem Nachruhm, welchen wir
mit dem Leben erkaufen, kann nicht ſowohl die
Vernunft, als vielmehr unſer Gefühl huldigen.
Denn durch das Mittel, wodurch wir ihn erkau-
fen, verlieren wir den Genuſs des erworbnen
Guts. Daher ſuchten auch die Republiken der
Vorzeit nicht ſowohl durch Vernunftgründe als
vielmehr durch die fixe Idee des Verdienſtes um
das Vaterland ihre Bürger für die öffentliche
Wohlfahrt zu gewinnen. Fränklin glaubte an
den prophetiſchen Geiſt ſeiner Träume *) und
Schwammerdam verbrannte einen Theil ſei-
ner Manuſkripte, weil er Gott durch die zu ge-
naue Unterſuchung ſeiner Werke zu beleidigen

fürch-
*) Cabanis l. c. T. II. 547.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0325" n="320"/>
gedrungne Object für Wahrheit zu halten, und<lb/>
in die&#x017F;em Augenblick i&#x017F;t &#x017F;ie verrückt. Der<lb/>
Men&#x017F;ch hat eine natürliche Anlage zu die&#x017F;er<lb/>
Krankheit, weil er &#x017F;chwerlich auch im ge&#x017F;unden<lb/>
Zu&#x017F;tande ganz frey von fixen Ideen i&#x017F;t, die vor<lb/>
dem Richter&#x017F;tuhl der unbedingten Vernunft nicht<lb/>
pa&#x017F;&#x017F;iren. Er lä&#x017F;st &#x017F;ie als Axiome &#x017F;tehn, ohne über<lb/>
ihre Haltbarkeit zu reflectiren, aus Gewohnheit,<lb/>
Bequemlichkeit, Schwäche des Alters oder aus<lb/>
überwiegender Stärke des Gefühlsvermögens und<lb/>
der Phanta&#x017F;ie im Verhältni&#x017F;s zur Vernunft. Es<lb/>
giebt Arten der Schwärmerey, die das Bürger-<lb/>
recht haben, weil &#x017F;ie zu gro&#x017F;sen Unternehmun-<lb/>
gen anfeuern. Dem Nachruhm, welchen wir<lb/>
mit dem Leben erkaufen, kann nicht &#x017F;owohl die<lb/>
Vernunft, als vielmehr un&#x017F;er Gefühl huldigen.<lb/>
Denn durch das Mittel, wodurch wir ihn erkau-<lb/>
fen, verlieren wir den Genu&#x017F;s des erworbnen<lb/>
Guts. Daher &#x017F;uchten auch die Republiken der<lb/>
Vorzeit nicht &#x017F;owohl durch Vernunftgründe als<lb/>
vielmehr durch die fixe Idee des Verdien&#x017F;tes um<lb/>
das Vaterland ihre Bürger für die öffentliche<lb/>
Wohlfahrt zu gewinnen. <hi rendition="#g">Fränklin</hi> glaubte an<lb/>
den propheti&#x017F;chen Gei&#x017F;t &#x017F;einer Träume <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Cabanis</hi> l. c. T. II. 547.</note> und<lb/><hi rendition="#g">Schwammerdam</hi> verbrannte einen Theil &#x017F;ei-<lb/>
ner Manu&#x017F;kripte, weil er Gott durch die zu ge-<lb/>
naue Unter&#x017F;uchung &#x017F;einer Werke zu beleidigen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fürch-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0325] gedrungne Object für Wahrheit zu halten, und in dieſem Augenblick iſt ſie verrückt. Der Menſch hat eine natürliche Anlage zu dieſer Krankheit, weil er ſchwerlich auch im geſunden Zuſtande ganz frey von fixen Ideen iſt, die vor dem Richterſtuhl der unbedingten Vernunft nicht paſſiren. Er läſst ſie als Axiome ſtehn, ohne über ihre Haltbarkeit zu reflectiren, aus Gewohnheit, Bequemlichkeit, Schwäche des Alters oder aus überwiegender Stärke des Gefühlsvermögens und der Phantaſie im Verhältniſs zur Vernunft. Es giebt Arten der Schwärmerey, die das Bürger- recht haben, weil ſie zu groſsen Unternehmun- gen anfeuern. Dem Nachruhm, welchen wir mit dem Leben erkaufen, kann nicht ſowohl die Vernunft, als vielmehr unſer Gefühl huldigen. Denn durch das Mittel, wodurch wir ihn erkau- fen, verlieren wir den Genuſs des erworbnen Guts. Daher ſuchten auch die Republiken der Vorzeit nicht ſowohl durch Vernunftgründe als vielmehr durch die fixe Idee des Verdienſtes um das Vaterland ihre Bürger für die öffentliche Wohlfahrt zu gewinnen. Fränklin glaubte an den prophetiſchen Geiſt ſeiner Träume *) und Schwammerdam verbrannte einen Theil ſei- ner Manuſkripte, weil er Gott durch die zu ge- naue Unterſuchung ſeiner Werke zu beleidigen fürch- *) Cabanis l. c. T. II. 547.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/325
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/325>, abgerufen am 22.11.2024.