zurück *). Goldhagen hörte, sah und ur- theilte über sich. Doch kam er erst zum vollen Bewusstseyn seines Zustandes durch die bemerkte Disharmonie zwischen seinen Aeusserungen und dem Ausdruck auf den Gesichtern der Anwesen- den. Welche feine Scheidewand trennte jenen Menschen von diesem? Was wurde in jenem ab- geändert, um diesen daraus zu machen? -- Einer melancholischen Frauensperson wurde eine Reise zur Zerstreuung vorgeschlagen. Sie packte ein, nahm Abschied, fuhr zwey Tage lang, und äusserte oft ihren Unwillen über die Beschwer- den langer Reisen. Nun warf der Wagen um, und in diesem Augenblick kam sie erst zum vol- len Bewusstseyn. Wo bin ich, rief sie aus, wo sind Mann und Kinder? Erst jetzt sehe ich klar, was ich vorher nur träumte, dass ich von meiner Vaterstadt getrennt und in unbekannte Gegenden verschlagen bin. Pinel**) forderte einen Wahnsinnigen von gebildetem Geiste mitten in einem Anfall chimärischer Ausschweifungen auf, auf der Stelle einen Brief zu schreiben. Es ge- schah; und der Brief war voll Sinn und Ver- stand.
Eine andere Anomalie des Selbstbewusst- seyns der Subjektivität besteht darin, dass wir
*)Reils Krankheitsgeschichte des seligen Ober- bergraths Goldhagen, Halle 1788, S. 32.
**) l. c. S. 26.
zurück *). Goldhagen hörte, ſah und ur- theilte über ſich. Doch kam er erſt zum vollen Bewuſstſeyn ſeines Zuſtandes durch die bemerkte Disharmonie zwiſchen ſeinen Aeuſserungen und dem Ausdruck auf den Geſichtern der Anweſen- den. Welche feine Scheidewand trennte jenen Menſchen von dieſem? Was wurde in jenem ab- geändert, um dieſen daraus zu machen? — Einer melancholiſchen Frauensperſon wurde eine Reiſe zur Zerſtreuung vorgeſchlagen. Sie packte ein, nahm Abſchied, fuhr zwey Tage lang, und äuſserte oft ihren Unwillen über die Beſchwer- den langer Reiſen. Nun warf der Wagen um, und in dieſem Augenblick kam ſie erſt zum vol- len Bewuſstſeyn. Wo bin ich, rief ſie aus, wo ſind Mann und Kinder? Erſt jetzt ſehe ich klar, was ich vorher nur träumte, daſs ich von meiner Vaterſtadt getrennt und in unbekannte Gegenden verſchlagen bin. Pinel**) forderte einen Wahnſinnigen von gebildetem Geiſte mitten in einem Anfall chimäriſcher Ausſchweifungen auf, auf der Stelle einen Brief zu ſchreiben. Es ge- ſchah; und der Brief war voll Sinn und Ver- ſtand.
Eine andere Anomalie des Selbſtbewuſst- ſeyns der Subjektivität beſteht darin, daſs wir
*)Reils Krankheitsgeſchichte des ſeligen Ober- bergraths Goldhagen, Halle 1788, S. 32.
**) l. c. S. 26.
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zurück *). Goldhagen hörte, ſah und ur-
theilte über ſich. Doch kam er erſt zum vollen
Bewuſstſeyn ſeines Zuſtandes durch die bemerkte
Disharmonie zwiſchen ſeinen Aeuſserungen und
dem Ausdruck auf den Geſichtern der Anweſen-
den. Welche feine Scheidewand trennte jenen
Menſchen von dieſem? Was wurde in jenem ab-
geändert, um dieſen daraus zu machen? — Einer
melancholiſchen Frauensperſon wurde eine Reiſe
zur Zerſtreuung vorgeſchlagen. Sie packte ein,
nahm Abſchied, fuhr zwey Tage lang, und
äuſserte oft ihren Unwillen über die Beſchwer-
den langer Reiſen. Nun warf der Wagen um,
und in dieſem Augenblick kam ſie erſt zum vol-
len Bewuſstſeyn. Wo bin ich, rief ſie aus, wo
ſind Mann und Kinder? Erſt jetzt ſehe ich klar,
was ich vorher nur träumte, daſs ich von meiner
Vaterſtadt getrennt und in unbekannte Gegenden
verſchlagen bin. Pinel **) forderte einen
Wahnſinnigen von gebildetem Geiſte mitten in
einem Anfall chimäriſcher Ausſchweifungen auf,
auf der Stelle einen Brief zu ſchreiben. Es ge-
ſchah; und der Brief war voll Sinn und Ver-
ſtand.
Eine andere Anomalie des Selbſtbewuſst-
ſeyns der Subjektivität beſteht darin, daſs wir
*) Reils Krankheitsgeſchichte des ſeligen Ober-
bergraths Goldhagen, Halle 1788, S. 32.
**) l. c. S. 26.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/76>, abgerufen am 25.11.2024.
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