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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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II. Ethnographie.
benachrichtigen liess, er habe ihrem vor mehr als 600 Jahren verstor-
benen Stifter Shinran Shonin den Ehrentitel Kenshin Daishi (Offen-
barer der Wahrheit) beigelegt.

Den Gegensatz zu den Shin bildeten immer die Nichiren oder
Hokke, indem sie sich stets für die wahren Orthodoxen ausgaben,
am meisten Eifer und Bigotterie entfalteten und eine Unduldsamkeit,
wie sie den meisten anderen Secten fremd ist und auffällt. Sie
hat sich oft genug nicht blos gegen diese geäussert, sondern nament-
lich auch gegen das Christenthum, dessen bitterste Feinde, wie Kato
Kiyomasa, zu ihr zählten. Die Hokko-shiu entfalteten ihre Macht in
Kamakura und wurden besonders im Nordosten von Japan sehr ein-
flussreich. Die Nichiren sind heftig, lärmend, geben viel auf äussere
Dinge. Heutzutage geniessen ihre Priester wenig Achtung, weil sie
im Rufe stehen, den Aberglauben zu nähren und die Ignoranz des
Volkes auszubeuten.

Der grosse Einfluss, welchen die Nichiren in dem ersten Jahr-
hundert nach ihrer Gründung entfalteten, ist theils dem Wissen und
unermüdlichen Eifer ihres Gründers und den Verfolgungen, denen er
ausgesetzt war, zuzuschreiben, theils der Klarheit und Bestimmtheit
seiner Lehre. Er verwarf das gewöhnliche Gebet der Buddhisten:
"Namu Amida Buddha" (Ehre dem heiligen Buddha) und lehrte, dass
die richtige Ansprache: "Namu mio horen ge kio" (Ehre sei dem Er-
lösung bringenden Buch des Gesetzes) heissen müsse, nach der chine-
sischen Uebersetzung eines der wichtigsten canonischen Bücher der
Buddhisten. Hierauf legten er und seine Anhänger stets hohes Ge-
wicht und meinten immer, die Ketzerei der andern Secten bringe sie
ganz sicher zur Hölle.

Die Blüthezeit der Yodo-shiu fällt unter die Herrschaft der
Tokugawa, welche sich zu ihr bekannten. Iyeyasu und seine näch-
sten Nachfolger erbauten ihr den grossen, schätzereichen Tempel
Zozoji zu Shiba in Tokio, welchen der Verfasser in der Neujahrsnacht
1874 in Flammen aufgehen sah, sowie die Tempel von Nikko. Ihre
Priester hielten gleich denen der Nichiren auf strenge Befolgung des
Cölibats und verschmähten Fleischspeisen. Sie lehrten, dass das Heil
der Seele weniger von Tugend und sittlicher Vervollkommnung ab-
hänge, als von der strengen Befolgung frommer Gebräuche. Bestän-
diges Wiederholen des Gebetes, das sie mit dem Schlagen an eine
runde Glocke begleiteten, gehörte zu ihren Hauptübungen. Sie be-
sassen immer viele Anhänger unter den Frauen und bedienten sich,
wie es heisst, nicht selten scandalöser Mittel, um denselben reiche
Gaben zu entlocken.

II. Ethnographie.
benachrichtigen liess, er habe ihrem vor mehr als 600 Jahren verstor-
benen Stifter Shinran Shônin den Ehrentitel Kenshin Daishi (Offen-
barer der Wahrheit) beigelegt.

Den Gegensatz zu den Shin bildeten immer die Nichiren oder
Hokke, indem sie sich stets für die wahren Orthodoxen ausgaben,
am meisten Eifer und Bigotterie entfalteten und eine Unduldsamkeit,
wie sie den meisten anderen Secten fremd ist und auffällt. Sie
hat sich oft genug nicht blos gegen diese geäussert, sondern nament-
lich auch gegen das Christenthum, dessen bitterste Feinde, wie Kato
Kiyomasa, zu ihr zählten. Die Hokko-shiu entfalteten ihre Macht in
Kamakura und wurden besonders im Nordosten von Japan sehr ein-
flussreich. Die Nichiren sind heftig, lärmend, geben viel auf äussere
Dinge. Heutzutage geniessen ihre Priester wenig Achtung, weil sie
im Rufe stehen, den Aberglauben zu nähren und die Ignoranz des
Volkes auszubeuten.

Der grosse Einfluss, welchen die Nichiren in dem ersten Jahr-
hundert nach ihrer Gründung entfalteten, ist theils dem Wissen und
unermüdlichen Eifer ihres Gründers und den Verfolgungen, denen er
ausgesetzt war, zuzuschreiben, theils der Klarheit und Bestimmtheit
seiner Lehre. Er verwarf das gewöhnliche Gebet der Buddhisten:
»Namu Amida Buddha« (Ehre dem heiligen Buddha) und lehrte, dass
die richtige Ansprache: »Namu miô hôren ge kiô« (Ehre sei dem Er-
lösung bringenden Buch des Gesetzes) heissen müsse, nach der chine-
sischen Uebersetzung eines der wichtigsten canonischen Bücher der
Buddhisten. Hierauf legten er und seine Anhänger stets hohes Ge-
wicht und meinten immer, die Ketzerei der andern Secten bringe sie
ganz sicher zur Hölle.

Die Blüthezeit der Yôdô-shiu fällt unter die Herrschaft der
Tokugawa, welche sich zu ihr bekannten. Iyeyasu und seine näch-
sten Nachfolger erbauten ihr den grossen, schätzereichen Tempel
Zôzôji zu Shiba in Tôkio, welchen der Verfasser in der Neujahrsnacht
1874 in Flammen aufgehen sah, sowie die Tempel von Nikko. Ihre
Priester hielten gleich denen der Nichiren auf strenge Befolgung des
Cölibats und verschmähten Fleischspeisen. Sie lehrten, dass das Heil
der Seele weniger von Tugend und sittlicher Vervollkommnung ab-
hänge, als von der strengen Befolgung frommer Gebräuche. Bestän-
diges Wiederholen des Gebetes, das sie mit dem Schlagen an eine
runde Glocke begleiteten, gehörte zu ihren Hauptübungen. Sie be-
sassen immer viele Anhänger unter den Frauen und bedienten sich,
wie es heisst, nicht selten scandalöser Mittel, um denselben reiche
Gaben zu entlocken.

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[528/0562] II. Ethnographie. benachrichtigen liess, er habe ihrem vor mehr als 600 Jahren verstor- benen Stifter Shinran Shônin den Ehrentitel Kenshin Daishi (Offen- barer der Wahrheit) beigelegt. Den Gegensatz zu den Shin bildeten immer die Nichiren oder Hokke, indem sie sich stets für die wahren Orthodoxen ausgaben, am meisten Eifer und Bigotterie entfalteten und eine Unduldsamkeit, wie sie den meisten anderen Secten fremd ist und auffällt. Sie hat sich oft genug nicht blos gegen diese geäussert, sondern nament- lich auch gegen das Christenthum, dessen bitterste Feinde, wie Kato Kiyomasa, zu ihr zählten. Die Hokko-shiu entfalteten ihre Macht in Kamakura und wurden besonders im Nordosten von Japan sehr ein- flussreich. Die Nichiren sind heftig, lärmend, geben viel auf äussere Dinge. Heutzutage geniessen ihre Priester wenig Achtung, weil sie im Rufe stehen, den Aberglauben zu nähren und die Ignoranz des Volkes auszubeuten. Der grosse Einfluss, welchen die Nichiren in dem ersten Jahr- hundert nach ihrer Gründung entfalteten, ist theils dem Wissen und unermüdlichen Eifer ihres Gründers und den Verfolgungen, denen er ausgesetzt war, zuzuschreiben, theils der Klarheit und Bestimmtheit seiner Lehre. Er verwarf das gewöhnliche Gebet der Buddhisten: »Namu Amida Buddha« (Ehre dem heiligen Buddha) und lehrte, dass die richtige Ansprache: »Namu miô hôren ge kiô« (Ehre sei dem Er- lösung bringenden Buch des Gesetzes) heissen müsse, nach der chine- sischen Uebersetzung eines der wichtigsten canonischen Bücher der Buddhisten. Hierauf legten er und seine Anhänger stets hohes Ge- wicht und meinten immer, die Ketzerei der andern Secten bringe sie ganz sicher zur Hölle. Die Blüthezeit der Yôdô-shiu fällt unter die Herrschaft der Tokugawa, welche sich zu ihr bekannten. Iyeyasu und seine näch- sten Nachfolger erbauten ihr den grossen, schätzereichen Tempel Zôzôji zu Shiba in Tôkio, welchen der Verfasser in der Neujahrsnacht 1874 in Flammen aufgehen sah, sowie die Tempel von Nikko. Ihre Priester hielten gleich denen der Nichiren auf strenge Befolgung des Cölibats und verschmähten Fleischspeisen. Sie lehrten, dass das Heil der Seele weniger von Tugend und sittlicher Vervollkommnung ab- hänge, als von der strengen Befolgung frommer Gebräuche. Bestän- diges Wiederholen des Gebetes, das sie mit dem Schlagen an eine runde Glocke begleiteten, gehörte zu ihren Hauptübungen. Sie be- sassen immer viele Anhänger unter den Frauen und bedienten sich, wie es heisst, nicht selten scandalöser Mittel, um denselben reiche Gaben zu entlocken.

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/562>, abgerufen am 22.11.2024.