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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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6. Religiöse Zustände.
Hilfe ist. Er ist durch jenes Reiben nicht blos poliert, sondern auch
der langen Nase und anderer hervorragender Theile seines hässlichen
Gesichtes beraubt worden.

Eine sehr bekannte und beliebte Gottheit ist Kuwanon*) (sprich
Kannon), die Göttin der Gnade. Sie wird mit mehreren Gesichtern,
40 Armen und 1000 Händen dargestellt und desshalb auch Senju-
Kuwanon-sama (Tausend-Hände-Gnaden-Gott) genannt. Oft dient
statt des Idols auch ein bloser verzierter und mit einem Gitter um-
gebener Altar. Kuwanon erhört die Gebete, ob sie ihm mündlich
oder schriftlich vorgetragen werden, und kann aus allen Gefahren
des Lebens erretten. Ist das ihm gewidmete Heiligthum zu fern vom
Supplicanten, so schreibt dieser seine Bitte auch wohl auf einen Papier-
streifen, ballt denselben im Munde zusammen und spuckt ihn dann
gegen dasselbe aus. Bleibt der Ballen hängen, so ist dies für den
Bittsteller ein gutes Zeichen und er geht beruhigt von dannen. Zahl-
reiche Dankschreiben für die Errettung aus den verschiedensten
Nöthen laufen an den Gott ein und werden an dem Altargitter be-
festigt.

In der Regel liegen die Tera (Buddhatempel) gleich den Miya
(Kamihallen) etwas seitwärts von der Strasse in einem geräumigen
Hofe oder kleinen Hain. Der Zugang führt durch ein oder mehrere
überdachte Portale (mon) und ist ein mit Steinplatten belegter Pfad
von verschiedener Breite, je nach Bedürfniss. Bei sehr besuchten
Tempeln, wie z. B. dem von Asakusa in Tokio, geht es her, wie auf
einem Jahrmarkte. Da sind längs dem Pfade oder an den Seiten
des Tempelhofes selbst ganze Reihen von Thee- und Verkaufsbuden,
in denen vornehmlich Spielsachen aller Art feilgeboten werden. Aber
auch Yashi (Marktschreier, wie Zauberer, Schwertverschlinger, Thier-
budenbesitzer und eine Menge anderer Künstler) finden hier einen
Platz und Publicum zur Vorführung ihrer Stücke.

Zu beiden Seiten des hohen Portales (mon) zu einem Buddha-
tempel und -Kloster erblicken wir als Thorhüter zwei höchst auf-
fällige, aus Holz geschnitzte Götzenbilder. Es sind nackte, stramme
athletische Gestalten von 3--4 Meter Höhe, welche vom Scheitel bis
zum Fusse zinnoberroth angestrichen sind, oder von denen der eine
roth, der andere grün erscheint. Der devote Buddhist nennt sie wohl
Ni(w)o-sama, die zwei ehrwürdigen Könige, der Freidenker bezeich-
nender Aka-oni und Awo-oni, den rothen und den grünen Teufel,
denn "hässlich wie die Sünde" ist kein bezeichnender Ausdruck für

*) Dies ist Avalokitecvara Indiens.
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6. Religiöse Zustände.
Hilfe ist. Er ist durch jenes Reiben nicht blos poliert, sondern auch
der langen Nase und anderer hervorragender Theile seines hässlichen
Gesichtes beraubt worden.

Eine sehr bekannte und beliebte Gottheit ist Kuwanon*) (sprich
Kannón), die Göttin der Gnade. Sie wird mit mehreren Gesichtern,
40 Armen und 1000 Händen dargestellt und desshalb auch Senju-
Kuwanon-sama (Tausend-Hände-Gnaden-Gott) genannt. Oft dient
statt des Idols auch ein bloser verzierter und mit einem Gitter um-
gebener Altar. Kuwanon erhört die Gebete, ob sie ihm mündlich
oder schriftlich vorgetragen werden, und kann aus allen Gefahren
des Lebens erretten. Ist das ihm gewidmete Heiligthum zu fern vom
Supplicanten, so schreibt dieser seine Bitte auch wohl auf einen Papier-
streifen, ballt denselben im Munde zusammen und spuckt ihn dann
gegen dasselbe aus. Bleibt der Ballen hängen, so ist dies für den
Bittsteller ein gutes Zeichen und er geht beruhigt von dannen. Zahl-
reiche Dankschreiben für die Errettung aus den verschiedensten
Nöthen laufen an den Gott ein und werden an dem Altargitter be-
festigt.

In der Regel liegen die Tera (Buddhatempel) gleich den Miya
(Kamihallen) etwas seitwärts von der Strasse in einem geräumigen
Hofe oder kleinen Hain. Der Zugang führt durch ein oder mehrere
überdachte Portale (mon) und ist ein mit Steinplatten belegter Pfad
von verschiedener Breite, je nach Bedürfniss. Bei sehr besuchten
Tempeln, wie z. B. dem von Asakusa in Tôkio, geht es her, wie auf
einem Jahrmarkte. Da sind längs dem Pfade oder an den Seiten
des Tempelhofes selbst ganze Reihen von Thee- und Verkaufsbuden,
in denen vornehmlich Spielsachen aller Art feilgeboten werden. Aber
auch Yashi (Marktschreier, wie Zauberer, Schwertverschlinger, Thier-
budenbesitzer und eine Menge anderer Künstler) finden hier einen
Platz und Publicum zur Vorführung ihrer Stücke.

Zu beiden Seiten des hohen Portales (mon) zu einem Buddha-
tempel und -Kloster erblicken wir als Thorhüter zwei höchst auf-
fällige, aus Holz geschnitzte Götzenbilder. Es sind nackte, stramme
athletische Gestalten von 3—4 Meter Höhe, welche vom Scheitel bis
zum Fusse zinnoberroth angestrichen sind, oder von denen der eine
roth, der andere grün erscheint. Der devote Buddhist nennt sie wohl
Ni(w)ô-sama, die zwei ehrwürdigen Könige, der Freidenker bezeich-
nender Aka-oni und Awo-oni, den rothen und den grünen Teufel,
denn »hässlich wie die Sünde« ist kein bezeichnender Ausdruck für

*) Dies ist Avalôkitêçvara Indiens.
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[531/0567] 6. Religiöse Zustände. Hilfe ist. Er ist durch jenes Reiben nicht blos poliert, sondern auch der langen Nase und anderer hervorragender Theile seines hässlichen Gesichtes beraubt worden. Eine sehr bekannte und beliebte Gottheit ist Kuwanon *) (sprich Kannón), die Göttin der Gnade. Sie wird mit mehreren Gesichtern, 40 Armen und 1000 Händen dargestellt und desshalb auch Senju- Kuwanon-sama (Tausend-Hände-Gnaden-Gott) genannt. Oft dient statt des Idols auch ein bloser verzierter und mit einem Gitter um- gebener Altar. Kuwanon erhört die Gebete, ob sie ihm mündlich oder schriftlich vorgetragen werden, und kann aus allen Gefahren des Lebens erretten. Ist das ihm gewidmete Heiligthum zu fern vom Supplicanten, so schreibt dieser seine Bitte auch wohl auf einen Papier- streifen, ballt denselben im Munde zusammen und spuckt ihn dann gegen dasselbe aus. Bleibt der Ballen hängen, so ist dies für den Bittsteller ein gutes Zeichen und er geht beruhigt von dannen. Zahl- reiche Dankschreiben für die Errettung aus den verschiedensten Nöthen laufen an den Gott ein und werden an dem Altargitter be- festigt. In der Regel liegen die Tera (Buddhatempel) gleich den Miya (Kamihallen) etwas seitwärts von der Strasse in einem geräumigen Hofe oder kleinen Hain. Der Zugang führt durch ein oder mehrere überdachte Portale (mon) und ist ein mit Steinplatten belegter Pfad von verschiedener Breite, je nach Bedürfniss. Bei sehr besuchten Tempeln, wie z. B. dem von Asakusa in Tôkio, geht es her, wie auf einem Jahrmarkte. Da sind längs dem Pfade oder an den Seiten des Tempelhofes selbst ganze Reihen von Thee- und Verkaufsbuden, in denen vornehmlich Spielsachen aller Art feilgeboten werden. Aber auch Yashi (Marktschreier, wie Zauberer, Schwertverschlinger, Thier- budenbesitzer und eine Menge anderer Künstler) finden hier einen Platz und Publicum zur Vorführung ihrer Stücke. Zu beiden Seiten des hohen Portales (mon) zu einem Buddha- tempel und -Kloster erblicken wir als Thorhüter zwei höchst auf- fällige, aus Holz geschnitzte Götzenbilder. Es sind nackte, stramme athletische Gestalten von 3—4 Meter Höhe, welche vom Scheitel bis zum Fusse zinnoberroth angestrichen sind, oder von denen der eine roth, der andere grün erscheint. Der devote Buddhist nennt sie wohl Ni(w)ô-sama, die zwei ehrwürdigen Könige, der Freidenker bezeich- nender Aka-oni und Awo-oni, den rothen und den grünen Teufel, denn »hässlich wie die Sünde« ist kein bezeichnender Ausdruck für *) Dies ist Avalôkitêçvara Indiens. 34*

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/567>, abgerufen am 22.11.2024.