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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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6. Religiöse Zustände.
Windgott aber hat einen über beiden Schultern liegenden Sack voll
Wind, den der rechte Arm am längeren unteren Ende umfasst, während
die linke Hand den Bund des kürzeren andern Endes zuhält. Wieder
folgt ein Hofraum, dann ein drittes, von bewaffneten Göttern bewachtes
Thor, von denen wiederum der zur Rechten einen grünen, der zur
Linken einen rothen Anstrich hat. Sie heissen (nach dem Sanskrit-
worte Yaksha) Yasha, und das Thor wird Yasha-go-mon, das Thor
der muthigen Teufel genannt. Auf der Innenseite ist rechts ein blauer
Schütze mit Bogen und Pfeil, links ein weisser Beilträger. Dem nun
folgenden Hofraum schliesst sich ein viertes Portal ohne Hüter an, dann
kommt erst der engere Tempelraum, in dessen Mitte eine weite, hohe
Holztreppe hinanführt zum Haiden. Dies ist die Vorhalle des Tempels
zur Verrichtung der Andacht. Das Anziehen einer Schelle, Trom-
melschlag oder dreimaliges Klatschen mit den Händen sind die Mittel,
mit denen der Bittende vorher den Gott zur Audienz einladet. Das
mysteriös verschlossene Go-nai-jin im Hintergrunde wird dabei als
dessen Wohnung angesehen. Die Verbindung des Haiden mit dem
Naijin eines Tempels heisst Ai-noma und ist bei berühmteren Tempeln
eine reich verzierte Passage.

Für die Buddhas (Heiligen), als die vollendetsten Geschöpfe
und höchsten Wesen der Buddhisten, gibt es einen allen gemeinsamen
weibischen Gesichtstypus. Es ist der unverkennbare Ausdruck von
Milde und Seelenruhe. Sie erscheinen stets sitzend auf den Blättern
einer ausgebreiteten Lotusblume. Durch die Abweichungen in der
Haltung der Hände und Finger wird zum Theil in überraschender
Weise ihre verschiedenartige Thätigkeit ausgedrückt. Zu Nikko sehen
wir in der Mitte des unteren Raumes des Go-ju-no-to (Fünfstock-
werkthurmes), einer Pagode von 198 Fuss Höhe, die ringsum in
prächtigen Reliefbildern die 12 Thiere des chinesischen Zodiacus ent-
hält, vier sitzende Statuen der berühmtesten Buddhas in Lebensgrösse.
Nach Norden blickt Shaka (Cakyamuni) und hebt beide Hände wie
segnend empor; nach Westen gerichtet ist das Bildniss von Mida
(Amitabha) in der bekannten meditierenden Stellung, gesenkten
Blickes, mit beiden Händen auf dem Schoosse und den Fingern
gegen einander gestemmt; auf der Südseite erblicken wir Dainichi
(Vairotschana) mit den Händen frei vor der Brust und über einander
dargestellt, so dass die rechte den Zeigefinger der linken umfasst hält.
Dies ist die allegorische Darstellung des Abschlusses, der Durch-
führung des Gesetzes. Endlich sehen wir auf der Ostseite den Ya-
kushi
, der die rechte Hand segnend emporhebt.

Doch als Führer der Legion buddhistischer Götter thront hoch

6. Religiöse Zustände.
Windgott aber hat einen über beiden Schultern liegenden Sack voll
Wind, den der rechte Arm am längeren unteren Ende umfasst, während
die linke Hand den Bund des kürzeren andern Endes zuhält. Wieder
folgt ein Hofraum, dann ein drittes, von bewaffneten Göttern bewachtes
Thor, von denen wiederum der zur Rechten einen grünen, der zur
Linken einen rothen Anstrich hat. Sie heissen (nach dem Sanskrit-
worte Yaksha) Yasha, und das Thor wird Yasha-gô-mon, das Thor
der muthigen Teufel genannt. Auf der Innenseite ist rechts ein blauer
Schütze mit Bogen und Pfeil, links ein weisser Beilträger. Dem nun
folgenden Hofraum schliesst sich ein viertes Portal ohne Hüter an, dann
kommt erst der engere Tempelraum, in dessen Mitte eine weite, hohe
Holztreppe hinanführt zum Haiden. Dies ist die Vorhalle des Tempels
zur Verrichtung der Andacht. Das Anziehen einer Schelle, Trom-
melschlag oder dreimaliges Klatschen mit den Händen sind die Mittel,
mit denen der Bittende vorher den Gott zur Audienz einladet. Das
mysteriös verschlossene Gô-nai-jin im Hintergrunde wird dabei als
dessen Wohnung angesehen. Die Verbindung des Haiden mit dem
Naijin eines Tempels heisst Ai-noma und ist bei berühmteren Tempeln
eine reich verzierte Passage.

Für die Buddhas (Heiligen), als die vollendetsten Geschöpfe
und höchsten Wesen der Buddhisten, gibt es einen allen gemeinsamen
weibischen Gesichtstypus. Es ist der unverkennbare Ausdruck von
Milde und Seelenruhe. Sie erscheinen stets sitzend auf den Blättern
einer ausgebreiteten Lotusblume. Durch die Abweichungen in der
Haltung der Hände und Finger wird zum Theil in überraschender
Weise ihre verschiedenartige Thätigkeit ausgedrückt. Zu Nikko sehen
wir in der Mitte des unteren Raumes des Go-ju-no-tô (Fünfstock-
werkthurmes), einer Pagode von 198 Fuss Höhe, die ringsum in
prächtigen Reliefbildern die 12 Thiere des chinesischen Zodiacus ent-
hält, vier sitzende Statuen der berühmtesten Buddhas in Lebensgrösse.
Nach Norden blickt Shaka (Çâkyamuni) und hebt beide Hände wie
segnend empor; nach Westen gerichtet ist das Bildniss von Mida
(Amitâbha) in der bekannten meditierenden Stellung, gesenkten
Blickes, mit beiden Händen auf dem Schoosse und den Fingern
gegen einander gestemmt; auf der Südseite erblicken wir Dainichi
(Vairôtschana) mit den Händen frei vor der Brust und über einander
dargestellt, so dass die rechte den Zeigefinger der linken umfasst hält.
Dies ist die allegorische Darstellung des Abschlusses, der Durch-
führung des Gesetzes. Endlich sehen wir auf der Ostseite den Ya-
kushi
, der die rechte Hand segnend emporhebt.

Doch als Führer der Legion buddhistischer Götter thront hoch

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[533/0569] 6. Religiöse Zustände. Windgott aber hat einen über beiden Schultern liegenden Sack voll Wind, den der rechte Arm am längeren unteren Ende umfasst, während die linke Hand den Bund des kürzeren andern Endes zuhält. Wieder folgt ein Hofraum, dann ein drittes, von bewaffneten Göttern bewachtes Thor, von denen wiederum der zur Rechten einen grünen, der zur Linken einen rothen Anstrich hat. Sie heissen (nach dem Sanskrit- worte Yaksha) Yasha, und das Thor wird Yasha-gô-mon, das Thor der muthigen Teufel genannt. Auf der Innenseite ist rechts ein blauer Schütze mit Bogen und Pfeil, links ein weisser Beilträger. Dem nun folgenden Hofraum schliesst sich ein viertes Portal ohne Hüter an, dann kommt erst der engere Tempelraum, in dessen Mitte eine weite, hohe Holztreppe hinanführt zum Haiden. Dies ist die Vorhalle des Tempels zur Verrichtung der Andacht. Das Anziehen einer Schelle, Trom- melschlag oder dreimaliges Klatschen mit den Händen sind die Mittel, mit denen der Bittende vorher den Gott zur Audienz einladet. Das mysteriös verschlossene Gô-nai-jin im Hintergrunde wird dabei als dessen Wohnung angesehen. Die Verbindung des Haiden mit dem Naijin eines Tempels heisst Ai-noma und ist bei berühmteren Tempeln eine reich verzierte Passage. Für die Buddhas (Heiligen), als die vollendetsten Geschöpfe und höchsten Wesen der Buddhisten, gibt es einen allen gemeinsamen weibischen Gesichtstypus. Es ist der unverkennbare Ausdruck von Milde und Seelenruhe. Sie erscheinen stets sitzend auf den Blättern einer ausgebreiteten Lotusblume. Durch die Abweichungen in der Haltung der Hände und Finger wird zum Theil in überraschender Weise ihre verschiedenartige Thätigkeit ausgedrückt. Zu Nikko sehen wir in der Mitte des unteren Raumes des Go-ju-no-tô (Fünfstock- werkthurmes), einer Pagode von 198 Fuss Höhe, die ringsum in prächtigen Reliefbildern die 12 Thiere des chinesischen Zodiacus ent- hält, vier sitzende Statuen der berühmtesten Buddhas in Lebensgrösse. Nach Norden blickt Shaka (Çâkyamuni) und hebt beide Hände wie segnend empor; nach Westen gerichtet ist das Bildniss von Mida (Amitâbha) in der bekannten meditierenden Stellung, gesenkten Blickes, mit beiden Händen auf dem Schoosse und den Fingern gegen einander gestemmt; auf der Südseite erblicken wir Dainichi (Vairôtschana) mit den Händen frei vor der Brust und über einander dargestellt, so dass die rechte den Zeigefinger der linken umfasst hält. Dies ist die allegorische Darstellung des Abschlusses, der Durch- führung des Gesetzes. Endlich sehen wir auf der Ostseite den Ya- kushi, der die rechte Hand segnend emporhebt. Doch als Führer der Legion buddhistischer Götter thront hoch

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/569>, abgerufen am 22.11.2024.