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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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gehandelt hat. Wir haben Freunde die uns nützlich
sein können: laßt sie uns durch gegenseitige innige
Bruderliebe zu erhalten suchen. Drauf antworte-
te ihnen Victorin, welcher die kirrende Sprache der
Nachtmenschen gelernt hatte, durch folgende Verse,
die er den Nachtweibern auswendig lernen, und ih-
ren Landsleuten vorsingen ließ:

Wir als Tagmenschen eute Brüder
Wir wollen eure Freunde seyn
Nehmt dies Versprechen, daß wir willig
Uns wechselseitig Dienste weihn.
Nachtmenschen, lebet ohne Sorgen!
Am Tage wachen wir für euch;
Des Nachts beschüzzet unsre Grenzen;
Denn Menschen bleiben stets sich gleich.

Er gab sich alle Mühe, denen Nachtweibern
die Erklärung dieser Verse zu geben, und ihnen den
wahren Sinn derselben einleuchtend zu machen,
damit sie diese Kenntnisse ihren Landsleuten mit-
theilen möchten; und er hatte nach einer Stunde
das Vergnügen sie mit sechs Alten und eben so-
viel jungen Leuten beiderlei Geschlechts zurückkom-
men zu sehn. Die an Tagemänner verheirathe-
ten Nachtweiber dienten zu Dolmetschern beider
Nationen. Ungeachtet die Nachtmenschen einen
ausserordentlich eingeschränkten Verstand haben, hielt
man doch folgende Unterredung mit ihnen.

Alter Nachtmensch. Jch sehn euch: ihr
sehn mich: ich sehr froh: ihr es sein auch?

Victo-



gehandelt hat. Wir haben Freunde die uns nuͤtzlich
ſein koͤnnen: laßt ſie uns durch gegenſeitige innige
Bruderliebe zu erhalten ſuchen. Drauf antworte-
te ihnen Victorin, welcher die kirrende Sprache der
Nachtmenſchen gelernt hatte, durch folgende Verſe,
die er den Nachtweibern auswendig lernen, und ih-
ren Landsleuten vorſingen ließ:

Wir als Tagmenſchen eute Bruͤder
Wir wollen eure Freunde ſeyn
Nehmt dies Verſprechen, daß wir willig
Uns wechſelſeitig Dienſte weihn.
Nachtmenſchen, lebet ohne Sorgen!
Am Tage wachen wir fuͤr euch;
Des Nachts beſchuͤzzet unſre Grenzen;
Denn Menſchen bleiben ſtets ſich gleich.

Er gab ſich alle Muͤhe, denen Nachtweibern
die Erklaͤrung dieſer Verſe zu geben, und ihnen den
wahren Sinn derſelben einleuchtend zu machen,
damit ſie dieſe Kenntniſſe ihren Landsleuten mit-
theilen moͤchten; und er hatte nach einer Stunde
das Vergnuͤgen ſie mit ſechs Alten und eben ſo-
viel jungen Leuten beiderlei Geſchlechts zuruͤckkom-
men zu ſehn. Die an Tagemaͤnner verheirathe-
ten Nachtweiber dienten zu Dolmetſchern beider
Nationen. Ungeachtet die Nachtmenſchen einen
auſſerordentlich eingeſchraͤnkten Verſtand haben, hielt
man doch folgende Unterredung mit ihnen.

Alter Nachtmenſch. Jch ſehn euch: ihr
ſehn mich: ich ſehr froh: ihr es ſein auch?

Victo-
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[171/0179] gehandelt hat. Wir haben Freunde die uns nuͤtzlich ſein koͤnnen: laßt ſie uns durch gegenſeitige innige Bruderliebe zu erhalten ſuchen. Drauf antworte- te ihnen Victorin, welcher die kirrende Sprache der Nachtmenſchen gelernt hatte, durch folgende Verſe, die er den Nachtweibern auswendig lernen, und ih- ren Landsleuten vorſingen ließ: Wir als Tagmenſchen eute Bruͤder Wir wollen eure Freunde ſeyn Nehmt dies Verſprechen, daß wir willig Uns wechſelſeitig Dienſte weihn. Nachtmenſchen, lebet ohne Sorgen! Am Tage wachen wir fuͤr euch; Des Nachts beſchuͤzzet unſre Grenzen; Denn Menſchen bleiben ſtets ſich gleich. Er gab ſich alle Muͤhe, denen Nachtweibern die Erklaͤrung dieſer Verſe zu geben, und ihnen den wahren Sinn derſelben einleuchtend zu machen, damit ſie dieſe Kenntniſſe ihren Landsleuten mit- theilen moͤchten; und er hatte nach einer Stunde das Vergnuͤgen ſie mit ſechs Alten und eben ſo- viel jungen Leuten beiderlei Geſchlechts zuruͤckkom- men zu ſehn. Die an Tagemaͤnner verheirathe- ten Nachtweiber dienten zu Dolmetſchern beider Nationen. Ungeachtet die Nachtmenſchen einen auſſerordentlich eingeſchraͤnkten Verſtand haben, hielt man doch folgende Unterredung mit ihnen. Alter Nachtmenſch. Jch ſehn euch: ihr ſehn mich: ich ſehr froh: ihr es ſein auch? Victo-

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/179>, abgerufen am 21.11.2024.