er eigensinnig ist. Er hat von Natur kein übles und hartes Gemüth: in seiner Person und Minen, ja so gar in seinem Umgange, wenn er nur nicht eben einen Anfall vom Podagra hat, kan man seine Geburt und Erziehung wohl spüren.
Vielleicht muß sich unser Geschlecht zum vor- aus darauf gefaßt machen, einige Unhöflichkeit von dem Manne zu erdulden, weil unser Hertz um die Zeit, da er noch unser Liebhaber war ihm den Vorzug vor allen andern gegeben hat. Man sage so viel man will, daß die Grosmuth eine Tugend des männlichen Geschlechts sey: ich habe im Gegentheil angemerckt, daß sie bey diesem Geschlecht wenigstens zehnmahl seltener als bey dem unsrigen anzutreffen sey. Aber was mei- nen Vater anlanget, so hat ihn seine schmertzhaf- te Kranckheit zu einem gantz andern Manne ge- macht, als er vorhin war. Sie überfiel ihn auf einmal in der Blüte seiner Jahre so heftig, daß sein lebhaftes Gemüthe alles Feuer und Munter- keit verlohr, und schwerlich Zeit Lebens wieder be- kommen wird. Sein munterer Geist ward gleich- sam gefesselt, und was ihm noch von Lebhaftig- keit übrig blieb, ist jetzt nur ein Mittel, seine Un- gedult zu vermehren, die vermuthlich durch seine ausserordentliche Glückseligkeit im Zeitlichen wächst. Denn es scheint, daß die, die am we- nigsten des zeitlichen Segens ermangeln am aller unzufriedensten sind, daß sie noch eines eintzigen ermangeln.
Aber
D 2
der Clariſſa.
er eigenſinnig iſt. Er hat von Natur kein uͤbles und hartes Gemuͤth: in ſeiner Perſon und Minen, ja ſo gar in ſeinem Umgange, wenn er nur nicht eben einen Anfall vom Podagra hat, kan man ſeine Geburt und Erziehung wohl ſpuͤren.
Vielleicht muß ſich unſer Geſchlecht zum vor- aus darauf gefaßt machen, einige Unhoͤflichkeit von dem Manne zu erdulden, weil unſer Hertz um die Zeit, da er noch unſer Liebhaber war ihm den Vorzug vor allen andern gegeben hat. Man ſage ſo viel man will, daß die Grosmuth eine Tugend des maͤnnlichen Geſchlechts ſey: ich habe im Gegentheil angemerckt, daß ſie bey dieſem Geſchlecht wenigſtens zehnmahl ſeltener als bey dem unſrigen anzutreffen ſey. Aber was mei- nen Vater anlanget, ſo hat ihn ſeine ſchmertzhaf- te Kranckheit zu einem gantz andern Manne ge- macht, als er vorhin war. Sie uͤberfiel ihn auf einmal in der Bluͤte ſeiner Jahre ſo heftig, daß ſein lebhaftes Gemuͤthe alles Feuer und Munter- keit verlohr, und ſchwerlich Zeit Lebens wieder be- kommen wird. Sein munterer Geiſt ward gleich- ſam gefeſſelt, und was ihm noch von Lebhaftig- keit uͤbrig blieb, iſt jetzt nur ein Mittel, ſeine Un- gedult zu vermehren, die vermuthlich durch ſeine auſſerordentliche Gluͤckſeligkeit im Zeitlichen waͤchſt. Denn es ſcheint, daß die, die am we- nigſten des zeitlichen Segens ermangeln am aller unzufriedenſten ſind, daß ſie noch eines eintzigen ermangeln.
Aber
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der Clariſſa.
er eigenſinnig iſt. Er hat von Natur kein uͤbles
und hartes Gemuͤth: in ſeiner Perſon und Minen,
ja ſo gar in ſeinem Umgange, wenn er nur nicht
eben einen Anfall vom Podagra hat, kan man
ſeine Geburt und Erziehung wohl ſpuͤren.
Vielleicht muß ſich unſer Geſchlecht zum vor-
aus darauf gefaßt machen, einige Unhoͤflichkeit
von dem Manne zu erdulden, weil unſer Hertz
um die Zeit, da er noch unſer Liebhaber war ihm
den Vorzug vor allen andern gegeben hat. Man
ſage ſo viel man will, daß die Grosmuth eine
Tugend des maͤnnlichen Geſchlechts ſey: ich habe
im Gegentheil angemerckt, daß ſie bey dieſem
Geſchlecht wenigſtens zehnmahl ſeltener als bey
dem unſrigen anzutreffen ſey. Aber was mei-
nen Vater anlanget, ſo hat ihn ſeine ſchmertzhaf-
te Kranckheit zu einem gantz andern Manne ge-
macht, als er vorhin war. Sie uͤberfiel ihn auf
einmal in der Bluͤte ſeiner Jahre ſo heftig, daß
ſein lebhaftes Gemuͤthe alles Feuer und Munter-
keit verlohr, und ſchwerlich Zeit Lebens wieder be-
kommen wird. Sein munterer Geiſt ward gleich-
ſam gefeſſelt, und was ihm noch von Lebhaftig-
keit uͤbrig blieb, iſt jetzt nur ein Mittel, ſeine Un-
gedult zu vermehren, die vermuthlich durch ſeine
auſſerordentliche Gluͤckſeligkeit im Zeitlichen
waͤchſt. Denn es ſcheint, daß die, die am we-
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Aber
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/71>, abgerufen am 23.11.2024.
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