Tage zu Tage bey ihnen beliebter. So vor- trefliche Bedingungen! so schöne Ver- schreibungen! ruft jedermann.
O mein Schatz, wenn ich diesen Familien Feh- ler nur nicht beweinen dürfte! diese unersättliche Begierde nach mehrerem Reichthum, obgleich sie schon alle zusammen mehr als reich sind! gegen Sie kan ich dreister hievon reden, weil wir uns bey- de oft diese gemeinfchaftliche Noth geklagt haben. Mein Vater und seine Brüder sind in diesem Stück gegen mich, was Jhre Frau Mutter gegen Sie ist. Sonst ist nichts an ihnen auszusetzen.
Es läßt, als ob mein Vater alles sein Recht über mich meinem Bruder übergeben hätte; und dieser will dafür angesehen seyn, daß er mich jetzt zärtlicher liebe als jemals. Jch habe mich ge- gen ihn deutlich und offenhertzig erklärt: allein er will aus meiner Erklärung einen Spaß machen, und stellet sich, als könte er gar nicht glauben, daß seine Schwester Clärchen/ das so gehorsame und wohlgeartete Kind, sich wider den Willen al- ler der Jhrigen setzen werde. Jch zittere, wenn ich an den Ausgang gedencke, den die Sache neh- men könte: denn ich sehe, daß sie in ihrem Ent- schluß unbeweglich sind.
Mein Vater und meine Mutter vermeiden mit Fleiß alle Gelegenheit, die ich gebrauchen könte, mit ihnen allein zu sprechen. Sie fragen mich nicht um meine Meinung, sondern wollen gern zum vor- aus setzen, daß Jhr Wille auch mein Wille seyn werde. Und doch kan ich nicht hoffen, bey irgend einem andern als nur bey ihnen durch Bitten und
Vorstel-
E 4
der Clariſſa.
Tage zu Tage bey ihnen beliebter. So vor- trefliche Bedingungen! ſo ſchoͤne Ver- ſchreibungen! ruft jedermann.
O mein Schatz, wenn ich dieſen Familien Feh- ler nur nicht beweinen duͤrfte! dieſe unerſaͤttliche Begierde nach mehrerem Reichthum, obgleich ſie ſchon alle zuſammen mehr als reich ſind! gegen Sie kan ich dreiſter hievon reden, weil wir uns bey- de oft dieſe gemeinfchaftliche Noth geklagt haben. Mein Vater und ſeine Bruͤder ſind in dieſem Stuͤck gegen mich, was Jhre Frau Mutter gegen Sie iſt. Sonſt iſt nichts an ihnen auszuſetzen.
Es laͤßt, als ob mein Vater alles ſein Recht uͤber mich meinem Bruder uͤbergeben haͤtte; und dieſer will dafuͤr angeſehen ſeyn, daß er mich jetzt zaͤrtlicher liebe als jemals. Jch habe mich ge- gen ihn deutlich und offenhertzig erklaͤrt: allein er will aus meiner Erklaͤrung einen Spaß machen, und ſtellet ſich, als koͤnte er gar nicht glauben, daß ſeine Schweſter Claͤrchen/ das ſo gehorſame und wohlgeartete Kind, ſich wider den Willen al- ler der Jhrigen ſetzen werde. Jch zittere, wenn ich an den Ausgang gedencke, den die Sache neh- men koͤnte: denn ich ſehe, daß ſie in ihrem Ent- ſchluß unbeweglich ſind.
Mein Vater und meine Mutter vermeiden mit Fleiß alle Gelegenheit, die ich gebrauchen koͤnte, mit ihnen allein zu ſprechen. Sie fragen mich nicht um meine Meinung, ſondern wollen gern zum vor- aus ſetzen, daß Jhr Wille auch mein Wille ſeyn werde. Und doch kan ich nicht hoffen, bey irgend einem andern als nur bey ihnen durch Bitten und
Vorſtel-
E 4
<TEI><text><body><divn="2"><p><pbfacs="#f0091"n="71"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">der Clariſſa.</hi></hi></fw><lb/>
Tage zu Tage bey ihnen beliebter. <hirendition="#fr">So vor-<lb/>
trefliche Bedingungen! ſo ſchoͤne Ver-<lb/>ſchreibungen!</hi> ruft jedermann.</p><lb/><p>O mein Schatz, wenn ich dieſen Familien Feh-<lb/>
ler nur nicht beweinen duͤrfte! dieſe unerſaͤttliche<lb/>
Begierde nach mehrerem Reichthum, obgleich ſie<lb/>ſchon alle zuſammen mehr als reich ſind! gegen Sie<lb/>
kan ich dreiſter hievon reden, weil wir uns bey-<lb/>
de oft dieſe gemeinfchaftliche Noth geklagt haben.<lb/>
Mein Vater und ſeine Bruͤder ſind in dieſem<lb/>
Stuͤck gegen mich, was Jhre Frau Mutter gegen<lb/>
Sie iſt. Sonſt iſt nichts an ihnen auszuſetzen.</p><lb/><p>Es laͤßt, als ob mein Vater alles ſein Recht<lb/>
uͤber mich meinem Bruder uͤbergeben haͤtte; und<lb/>
dieſer will dafuͤr angeſehen ſeyn, daß er mich jetzt<lb/>
zaͤrtlicher liebe als jemals. Jch habe mich ge-<lb/>
gen ihn deutlich und offenhertzig erklaͤrt: allein er<lb/>
will aus meiner Erklaͤrung einen Spaß machen,<lb/>
und ſtellet ſich, als koͤnte er gar nicht glauben,<lb/>
daß ſeine Schweſter <hirendition="#fr">Claͤrchen/</hi> das ſo gehorſame<lb/>
und wohlgeartete Kind, ſich wider den Willen al-<lb/>
ler der Jhrigen ſetzen werde. Jch zittere, wenn<lb/>
ich an den Ausgang gedencke, den die Sache neh-<lb/>
men koͤnte: denn ich ſehe, daß ſie in ihrem Ent-<lb/>ſchluß unbeweglich ſind.</p><lb/><p>Mein Vater und meine Mutter vermeiden mit<lb/>
Fleiß alle Gelegenheit, die ich gebrauchen koͤnte,<lb/>
mit ihnen allein zu ſprechen. Sie fragen mich nicht<lb/>
um meine Meinung, ſondern wollen gern zum vor-<lb/>
aus ſetzen, daß Jhr Wille auch mein Wille ſeyn<lb/>
werde. Und doch kan ich nicht hoffen, bey irgend<lb/>
einem andern als nur bey ihnen durch Bitten und<lb/><fwplace="bottom"type="sig">E 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Vorſtel-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[71/0091]
der Clariſſa.
Tage zu Tage bey ihnen beliebter. So vor-
trefliche Bedingungen! ſo ſchoͤne Ver-
ſchreibungen! ruft jedermann.
O mein Schatz, wenn ich dieſen Familien Feh-
ler nur nicht beweinen duͤrfte! dieſe unerſaͤttliche
Begierde nach mehrerem Reichthum, obgleich ſie
ſchon alle zuſammen mehr als reich ſind! gegen Sie
kan ich dreiſter hievon reden, weil wir uns bey-
de oft dieſe gemeinfchaftliche Noth geklagt haben.
Mein Vater und ſeine Bruͤder ſind in dieſem
Stuͤck gegen mich, was Jhre Frau Mutter gegen
Sie iſt. Sonſt iſt nichts an ihnen auszuſetzen.
Es laͤßt, als ob mein Vater alles ſein Recht
uͤber mich meinem Bruder uͤbergeben haͤtte; und
dieſer will dafuͤr angeſehen ſeyn, daß er mich jetzt
zaͤrtlicher liebe als jemals. Jch habe mich ge-
gen ihn deutlich und offenhertzig erklaͤrt: allein er
will aus meiner Erklaͤrung einen Spaß machen,
und ſtellet ſich, als koͤnte er gar nicht glauben,
daß ſeine Schweſter Claͤrchen/ das ſo gehorſame
und wohlgeartete Kind, ſich wider den Willen al-
ler der Jhrigen ſetzen werde. Jch zittere, wenn
ich an den Ausgang gedencke, den die Sache neh-
men koͤnte: denn ich ſehe, daß ſie in ihrem Ent-
ſchluß unbeweglich ſind.
Mein Vater und meine Mutter vermeiden mit
Fleiß alle Gelegenheit, die ich gebrauchen koͤnte,
mit ihnen allein zu ſprechen. Sie fragen mich nicht
um meine Meinung, ſondern wollen gern zum vor-
aus ſetzen, daß Jhr Wille auch mein Wille ſeyn
werde. Und doch kan ich nicht hoffen, bey irgend
einem andern als nur bey ihnen durch Bitten und
Vorſtel-
E 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/91>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.